Mit Wahlen sind staatsrechtlich Entscheidungen über Personen, mit Abstimmungen solche über Sachfragen gemeint. In der strikt repräsentativ ausgestalteten Ordnung des Grundgesetzes stellen die Parlamentswahlen den zentralen Akt dar, in dem sich der Bürger als „Glied des Staatsorgans Volk im status activus“ betätigt.[372] Der Wahlvorgang (allein) knüpft das Band zwischen dem Volk und seiner Vertretungskörperschaft, die dadurch als einziges „besonderes Organ“ unmittelbar von diesem legitimiert ist. Die repräsentative Demokratie des Grundgesetzes realisiert sich also im Wesentlichen im Wahlakt, dessen Ausgestaltung daher von zentraler Bedeutung ist und der im Grundgesetz selbst mit den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG[373] eine nähere Regelung erfahren hat. Das Parlament rückt in rechtshistorischer Perspektive (auch) aufgrund dieser Konstellation in das Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses.[374] Sowohl für die Vorbereitung wie für die Durchführung der Wahlen als auch für die Besetzung der Staatsämter und des Weiteren für die demokratische Rückkopplung zwischen Volk und Staatsorganen erweisen sich die durch Art. 21 GG in gewisser Weise institutionalisierten politischen Parteien als schlechthin ausschlaggebende Faktoren,[375] was die Kennzeichnung als „parteienstaatliche Demokratie“ durchaus rechtfertigt.[376] Dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien[377] kommt politisch zentrale Bedeutung nicht nur, aber auch für die Wahlen zu.
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Unter „Abstimmungen“ versteht man Sachentscheidungen durch die Aktivbürgerschaft selbst ohne repräsentative Vermittlung.[378] Plastisch bringt etwa die Verfassung des Freistaates Bayern die Alternativität von parlamentarischer und volksunmittelbarer Gesetzgebung zum Ausdruck.[379] Das Grundgesetz benennt die Möglichkeit von Abstimmungen in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, ohne sie ansonsten näher auszuformen oder zu konkretisieren. Zwar werden als Beispielsfälle zumeist Art. 29, 118 und 118a GG genannt; doch handelt es sich hierbei um Bevölkerungsentscheide, nicht um Volksentscheide. Derartige Territorialplebiszite bringen nicht das Staatsvolk als alternativen Gesetzgeber ins Spiel, sondern rekurrieren auf den von der Neugliederung betroffenen Bevölkerungsteil.[380] De constitutione lata gibt es daher keinen konkreten grundgesetzlichen Anwendungsfall für „Abstimmungen“ i.S.d. Art. 20 Abs. 2 GG im Grundgesetz, während in deutlichem Kontrast hierzu alle 16 deutschen Bundesländer Formen direkter Demokratie wie Volksbegehren und Volksentscheid kennen.[381] Das indiziert zugleich, dass de constitutione ferenda die Einführung der Volksgesetzgebung auf Bundesebene im Wege der Verfassungsänderung keineswegs ausgeschlossen ist.
c) Ausübung durch besondere Organe (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG): Das Modell demokratischer Legitimation
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Da nur die Abgeordneten direkt vom Volk gewählt werden, nicht jedoch die Amtswalter von Exekutive und Judikative, stellt sich die Frage nach der näheren Ausgestaltung des gewaltenteiligen Zurechnungs- und Verantwortungszusammenhanges zwischen jenen Staatsorganen und dem Volk. Eine umfassende und tragfähige Antwort hierauf sucht die vom Bundesverfassungsgericht vertretene[382] und in der Literatur systematisierte Lehre von der demokratischen Legitimation zu geben.[383] Danach sind bausteinartig mehrere Komponenten (funktionell-institutionelle, personell-organisatorische, sachlich-inhaltliche) zu unterscheiden, die insgesamt und in ihrem Zusammenwirken ein hinlängliches „Legitimationsniveau“ bei der Ausübung von Staatsgewalt sicherzustellen haben.[384] Während die funktionell-institutionelle Komponente im Grunde nur festhält, dass in der Verfassung selbst die Funktionen bzw. Institutionen von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung vorgesehen sind, und die sachlich-inhaltliche Komponente auf die inhaltliche Steuerung des Staatshandelns insbesondere durch das förmliche Gesetz sowie (jedenfalls für die Exekutive) die Möglichkeiten hierarchischer Aufsicht setzt, hat sich insbesondere die personell-organisatorische Komponente als kritische und umstrittene Größe erwiesen, weil das Bundesverfassungsgericht bei der individuellen Einsetzung der Amtswalter eine letztlich auf das Volk rückführbare ununterbrochene Legitimationskette von Berufungsakten verlangt. Hieran hat das Gericht etwa das schleswig-holsteinische Mitbestimmungsgesetz für den öffentlichen Dienst scheitern lassen[385] und dafür viel Kritik geerntet.[386] Ganz generell wird diese strenge und ausnahmslos formulierte Anforderung als zu starr und schematisch sowie partiell der komplexen verwaltungsrechtlichen Realität unangemessen empfunden. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch in seiner jüngsten einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 2002 im Bereich der funktionalen Selbstverwaltung eine flexiblere Position eingenommen und eine Ersetzung oder doch Modifikation jenes strikten Modus durch andere Legitimationsformen wie die Einbeziehung Betroffener akzeptiert.[387] Damit ergibt sich die Möglichkeit, die konstruktiv-rationalen Elemente des heuristisch wertvollen Konzepts demokratischer Legitimation festzuhalten, ohne die notwendige Flexibilität für die Beurteilung heterogener Fallgestaltungen preiszugeben.
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Das Modell demokratischer Legitimation erstreckt sich auch auf den Bereich der Rechtsprechung und wird folgenreich vor allem für die Richterbestellung.[388] Da wegen der verfassungsrechtlich garantierten sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Richter eine Steuerung qua Aufsicht oder kraft Weisung nicht in Betracht kommt, trägt die in Art. 97 Abs. 1 GG nochmals unterstrichene Bindung des Richters an das Gesetz umso stärkere Last, ohne dass damit freilich Erscheinungsformen von Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung (intra, praeter oder auch contra legem) ausgeschlossen wären. Neueren Vorschlägen zufolge sollten zur Stärkung der sachlich-inhaltlichen Legitimation neben der Mobilisierung der Öffentlichkeit und dem Institut der Staatshaftung vor allem die Instrumente der Dienstaufsicht und Disziplinargewalt herangezogen werden.[389]
§ 1 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Deutschland › III. Grundzüge des Grundgesetzes › 4. Rechtsstaatsprinzip
4. Rechtsstaatsprinzip
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Das Substantiv „Rechtsstaat“ oder das Adjektiv „rechtsstaatlich“ sucht man in Art. 20 GG vergebens, doch sind in Art. 20 Abs. 2, 3 GG wesentliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips (wie der Grundsatz der Gewaltenteilung oder der Vorrang des Gesetzes) ausdrücklich normiert. Außerdem spricht die Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG explizit vom Rechtsstaat und lässt so (wegen des wechselseitigen „Informationsverhältnisses“ zwischen den beiden Normen) indirekt erkennen, dass das Grundgesetz sich seinerseits als eine dem Rechtsstaatsgedanken verpflichtete Ordnung versteht und von daher die damit traditionell verbundenen Normbestände verbürgt. In die gleiche Richtung ist die Erwähnung der rechtsstaatlichen Grundsätze in Art. 23 Abs. 1 GG zu deuten. Darüber, was zu den Elementen des Rechtsstaates zählt, gehen die Meinungen allerdings auseinander. Groß ist die Gefahr unkontrollierter Aufblähung. Es gibt zu denken, dass in einer neueren Untersuchung nicht weniger als 141 rechtsstaatliche Elemente ausfindig gemacht und zu 17 Kernbestandteilen verdichtet wurden.[390] Hier droht rechtsstaatliche Wohltat zur inflationären Plage zu werden. Andererseits hat man bestritten, dass ein über die einzelnen konkreten Gewährleistungen im Grundgesetz hinausgehendes normativ folgenreiches Rechtsstaatsprinzip überhaupt existiert,[391] ohne dass sich diese Auffassung hat durchsetzen können.[392] Doch ist zuzugeben, dass das Rechtsstaatsprinzip seiner Vielgestaltigkeit wegen durchaus wie ein „begriffliches Dach“[393] wirkt, unter dem eine Mehrzahl rechtlicher Garantien zusammengefasst werden. Im Folgenden werden nur die wesentlichen und weitgehend unumstrittenen Elemente aufgeführt.[394]
a) Gewaltenteilung
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In Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG sind mit Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung bestimmte Funktionen benannt und zugleich „besonderen“ Organen zugeordnet.[395] Besonders meint hier nicht exzeptionell, sondern gesondert, voneinander getrennt. Aus der Funktionentrennung folgt die Organtrennung. Im Grundsatz heißt das: Parlamente