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Dem Mannesmann-Urteil[6] des BGH lag das Urteil[7] des Landgerichts Düsseldorf zugrunde. Nach dessen Feststellungen übernahm das Mobilfunkunternehmen Vodafone plc. Anfang des Jahres 2000 nach längerem Übernahmekampf einvernehmlich die Anteile des Industrieunternehmens Mannesmann AG. Kurze Zeit nach der Einigung beschlossen drei Angeklagte in ihrer Funktion als Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der Mannesmann AG mit Zustimmung der Geschäftsleitung der Vodafone plc. und auf Vorschlag eines Großaktionärs freiwillige Anerkennungsprämien in Millionenhöhe u. a. an den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann AG. Sie wollten dadurch die Verdienste des Vorstandsvorsitzenden etwa im Hinblick auf die Steigerung des Unternehmenswertes unter seiner Leitung honorieren. Auf Wunsch eines am Beschluss beteiligten Angeklagten wurde auch ihm eine Anerkennungsprämie gewährt. Die Angeklagten gingen davon aus, dass die Entscheidungen aufgrund ihres unternehmerischen Ermessenspielraums erlaubt seien.
Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf warf den Angeklagten vor, sich durch die Gewährung der Anerkennungsprämien der Untreue zu Lasten der Mannesmann AG schuldig gemacht zu haben. Das Landgericht Düsseldorf sprach die Angeklagten hingegen frei. Die Gewährung der Anerkennungsprämien sei zwar aktienrechtlich unzulässig gewesen, den Angeklagten könne jedoch nur im Hinblick auf die finanzielle Zuwendung gegenüber dem Präsidiumsmitglied der Mannesmann AG eine „gravierende“ Pflichtverletzung vorgeworfen werden. Eine „gravierende“ Pflichtverletzung sei im Rahmen einer unternehmerischen Entscheidung zur Verwirklichung des § 266 indes erforderlich. Die Angeklagten haben nach Auffassung des Landgerichts insoweit allerdings in einem schuldausschließenden Verbotsirrtum gehandelt.[8]
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Der 3. Strafsenat des BGH hob das Urteil mit der Begründung auf, § 266 setze im Kontext unternehmerischer Entscheidungen keine „gravierende“ Pflichtverletzung voraus. Durch die dienstvertraglich nicht geschuldete Gewährung einer Anerkennungsprämie ohne künftigen Nutzen für das Unternehmen werde überdies die Vermögensbetreuungspflicht der Präsidiumsmitglieder verletzt.[9]
Der 3. Strafsenat des BGH behandelt zudem die Frage, ob die irrtümliche Annahme der Angeklagten, ihr Handeln sei erlaubt, Tatbestands- oder Verbotsirrtum ist. Der Senat enthielt sich einer konkreten Antwort mit dem Hinweis darauf, dass „[e]ine sachgerechte Einordnung etwaiger Fehlvorstellungen oder -bewertungen der Angeklagten […] sich nicht durch schlichte Anwendung einfacher Formeln ohne Rückgriff auf wertende Kriterien und differenzierende Betrachtungen erreichen lassen [wird].“[10] Welche wertenden Kriterien zur Beurteilung hinzugezogen werden sollen, ließ der Senat offen.
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Eine klare Antwort auf die Vorsatzfrage könnte sich aus der dogmatischen Ausgestaltung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ergeben. Nicht nur das Mannesmann-Urteil, auch die im Zuge der EuGH-Rechtsprechung in Sachen Inspire Art[11], Centros[12] und Überseering[13] immer häufiger gestellte Frage nach den Grenzen zulässiger Fremdrechtsanwendung auch im Rahmen der Untreue, etwa im Fall des Geschäftsleiters einer EU-Auslandsgesellschaft,[14] haben das Problem der dogmatischen Einordnung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals in § 266 inzwischen erheblich an Aktualität gewinnen lassen. Es erstaunt nicht, dass sich in jüngster Zeit vermehrt Äußerungen zu dessen Rechtsnatur finden lassen.[15] Das Pflichtwidrigkeitsmerkmal der Untreue wird im Kontext verschiedener Sachfragen als normatives Tatbestandsmerkmal[16], als Blankett- bzw. „blankettartiges“ Merkmal[17] oder als gesamttatbewertendes Merkmal[18] eingestuft[19] – freilich nicht selten ohne nähere Begründung.
Auch in der Rechtsprechung lässt sich bislang keine einheitliche Antwort verzeichnen. Das OLG Stuttgart identifiziert § 266 im Hinblick auf die zeitliche Geltung von Strafgesetzen (§ 2 Abs. 3) „eindeutig“[20] als Blankettstrafgesetz, der 5. Strafsenat des BGH[21] und das BVerfG ordnen das Pflichtwidrigkeitsmerkmal im Zusammenhang mit Art. 103 Abs. 2 GG demgegenüber als ein („komplexes“[22]) normatives Tatbestandsmerkmal ein. Bezüglich des gesetzlichen Tatbestandes gem. § 16 Abs. 1 stehen nach wie vor kategorisierende Stellungnahmen in der Rechtsprechung aus.
Teil 1 Einführung in die Problematik › B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit
B. Die Bedeutung der dogmatischen Einordnung der Pflichtwidrigkeit
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Die Rechtsnatur des Pflichtwidrigkeitsmerkmals aus § 266 Abs. 1 wird in der vorliegenden Untersuchung in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Vorsatzes („gesetzlicher Tatbestand“, § 16 Abs. 1 S. 1) erörtert. Durch den verweisenden Charakter des Pflichtwidrigkeitsmerkmals auf Vermögensbetreuungspflichten, die ihrerseits von unterschiedlichem Bestimmtheitsgrad geprägt und von verschiedenen Rechtssubjekten begründet (Private) bzw. erlassen (nationaler oder ausländischer Gesetzgeber) sein können, erfährt seine dogmatische Kategorisierung jedoch auch unter dem Aspekt des Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs. 2 GG („Garantietatbestand“) Relevanz.[23]
Teil 1 Einführung in die Problematik › B › I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)
I. § 266 als „gesetzlicher Tatbestand“ (§ 16 Abs. 1)
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Die dogmatische Erfassung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist für die Funktion des Tatbestandes relevant, diejenigen Merkmale zu beschreiben, deren Unkenntnis vorsatzausschließend ist.[24] Die Pflichtwidrigkeit der untreuerelevanten Handlung muss nach § 15 vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Unbeantwortet bleibt insoweit allerdings, was der vorsatzrechtliche Bezugspunkt – der Gegenstand – des Pflichtwidrigkeitsmerkmals ist. Im Unterschied zum normativen Tatbestandsmerkmal, bei dem der Täter den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt des Tatumstandes – hier die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht – nach Laienart richtig erfassen muss,[25] sind im Fall der Qualifizierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals als Blankett nach h.M. geringere Anforderungen an den Vorsatz zu stellen. Ausreichend ist es, dass der Täter Kenntnis von den strafbarkeitsbegründenden bzw. pflichtwidrigkeitsbegründenden Tatsachen hat.[26] Dem entspricht nach überwiegender Ansicht die Einordnung der Pflichtwidrigkeit als ein tatbewertendes Merkmal: Der Täter muss zwar das rechtlich missbilligte Risiko, nicht aber dessen rechtliche Missbilligung erkannt haben.[27]
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In der Rechtsprechung wurde im vorsatzrechtlichen Zusammenhang auf eine dogmatische Kategorisierung des Pflichtwidrigkeitsmerkmals bislang verzichtet. Lediglich als Indiz kann die rechtliche Behandlung des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit der Untreue seitens der Gerichte gewertet werden. Wird ein solcher Irrtum als Tatbestandsirrtum[28] eingestuft, spricht dies für die Einordnung als normatives Tatbestandsmerkmal. Wird auf ihn hingegen die Rechtsfolge des § 17 angewendet,[29] liegt die Kategorisierung als Blankett- bzw. tatbewertendes Merkmal nahe.
Näher hat sich der 3. Strafsenat des BGH im Mannesmann-Urteil zur Rechtsfolge des Irrtums über die Pflichtwidrigkeit geäußert. Dort führt er aus:
„Je nach dem Stand ihrer (Un-)Kenntnis von den Tatsachen und der eigenen (Fehl-) Bewertung ihres Verhaltens könnten [die Angeklagten] in einem den Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) oder in einem vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB) gehandelt haben. Die Abgrenzung im Einzelnen dürfte sich als schwierig erweisen, wie dies bei Tatbeständen mit stark normativ geprägten objektiven Tatbestandsmerkmalen (hier in § 266 Abs. 1 StGB die Verletzung der Pflicht, die Vermögensinteressen wahrzunehmen) häufig der Fall ist und