aa) Die Verfassung, Spitze der Normenhierarchie
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Mit seinem Beschluss Sarran aus dem Jahr 1998[31] bestätigte der Conseil d’État zwar gemäß Art. 55 CF den Vorrang internationaler Verpflichtungen gegenüber den nationalen Gesetzen; eine Vorrangstellung gegenüber der Verfassung lehnte er hingegen ab. Die Cour de Cassation hat sich zwei Jahre später dieser Rechtsprechung angeschlossen[32]. Diese Entscheidungen sind nicht überraschend, beschränken sie sich doch darauf, die logischen Folgerungen aus Art. 55 CF zu ziehen, doch klammern sie das Problem einer Versöhnung von Staatsverfassung und gemeinschaftlicher Rechtsordnung aus. Im Konfliktfall kann der nationale Richter somit auf die Verfassung pochen, während der Gemeinschaftsrichter nur den Vorrang des Gemeinschaftsrechts bekräftigen kann.
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Der Conseil constitutionnel hat sich zunächst zum Sekundärrecht geäußert. Vereinzelt geblieben sind Entscheidungen, in denen er implizit in Anspruch genommen hat, die Verfassungsmäßigkeit von Verordnungen der Gemeinschaft kontrollieren zu können.[33] Erst 2004 hat er sich zum Status der Richtlinien geäußert und in zwei Entscheidungen bestätigt, dass ihm die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer Richtlinie nicht zukomme;[34] diese Aufgabe falle dem Gemeinschaftsrichter zu. Hieraus könnte man ableiten, dass er der gleichen Logik künftig auch bei Verordnungen folgen wird. Eine Ausnahme von dieser Regel würde der Conseil constitutionnel nur dann annehmen, wenn eine Verfassungsbestimmung der Übernahme eines Sekundärrechtsaktes ausdrücklich im Wege stünde. Nur unter dieser engen Voraussetzung fühlt er sich dazu berufen, die Verfassungsmäßigkeit des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zu kontrollieren. Die Zuständigkeit des Conseil constitutionnel zur Kontrolle des französischen Gesetzgebers gilt auch dann, wenn dieser eine Richtlinie umsetzt. In gewundenen Formulierungen hat sich der Conseil constitutionnel nicht nur für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Gesetz und Verfassung, sondern auch für die Vereinbarkeit von Gesetz und Richtlinie für zuständig erklärt[35] und damit eine bemerkenswerte Rechtsprechungswende vollzogen. Ab einer Entscheidung im Jahr 1975 hatte er es nämlich in ständiger Rechtsprechung zunächst abgelehnt, sich zum Verhältnis von Gesetzen und internationalem oder europäischem Recht zu äußern und überließ diese Aufgabe den Fachrichtern.[36] Erst seit 2004 ist seine Position nicht mehr so eindeutig. Er stützt sich nunmehr auf die verfassungsmäßige Sonderstellung des Gemeinschaftsrechts. Aus dem Umstand, dass der 1992 in die französische Verfassung aufgenommene Art. 88–1 Frankreich die Mitwirkung in der EU erlaubt, leitet er seltsamerweise ab, dass sich die Pflicht zur Umsetzung – obwohl gemeinschaftsrechtlich statuiert (Art. 249 Abs. 3 EG) – aus der Verfassung ergibt. Zur Überprüfung ihrer Einhaltung habe sich der Conseil constitutionnel zu vergewissern, dass der Gesetzgeber „die unbedingten und präzisen Bestimmungen der Richtlinie“ exakt übernimmt. Ist dies der Fall, gilt das Gesetz als verfassungskonform. Wenn nicht, prüft er die Übereinstimmung des Gesetzes mit der Verfassung in eingehender Form. In seinem Beschluss vom 1. Juli 2004 nahm er eine solche Überprüfung vor, indem er feststellte, dass der Gesetzgeber nicht gegen die Verfassung verstoßen hat.[37] Wie B. Genevois[38] herausgearbeitet hat, versetzt diese neue Position den Conseil constitutionnel in eine schwierige Lage: Er hat die unbedingten und präzisen Bestimmungen der Richtlinie zu ermitteln und muss ferner die Korrektheit der Umsetzung beurteilen, ohne den EuGH anrufen zu können. Denn er hält sich bislang nicht für eine zum Anstoß eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EG geeignete Instanz.[39] Diese Beschlüsse aus dem Jahr 2004 beruhen freilich auf einer Verwechslung von unmittelbarer Anwendbarkeit der Richtlinie, die nur für die präzisen und unbedingten Bestimmungen gilt,[40] mit der Umsetzungsverpflichtung, die für die gesamte Richtlinie gilt. Es wäre daher vorzugswürdig gewesen, es bei der Entscheidung von 1975 zu belassen und weiterhin auf die Richter zu vertrauen.
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Hinsichtlich der Spitze der gemeinschaftlichen Rechtsordnung hat es der Conseil constitutionnel mit Blick auf den – bislang nicht in Kraft getretenen Verfassungsvertrag – abgelehnt, in der Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (Art. I-6 VVE) eine Beeinträchtigung der Vorrangstellung der französischen Verfassung zu sehen. Er hat sich dabei auf die im VVE ebenfalls enthaltene Aussage gestützt, dass die „politischen und konstitutionellen Grundstrukturen“ der Mitgliedstaaten zu erhalten sind (Art. I-5 VVE), also auf die Beibehaltung der überkommenen Rechtsnatur der Union.[41] Diese Annahme beruht freilich auf mehreren strittigen Postulaten:[42] Der Conseil constitutionnel geht zunächst implizit davon aus, dass nur die Umwandlung der Union in einen Bundesstaat zur Anerkennung der Vorrangstellung der europäischen Verfassung führen könnte, wobei er die Gemeinschaftsrechtsprechung und die Diskussionen über die Besonderheit der europäischen Integration außer Acht lässt. Ferner denkt er in Begriffen der Normenhierarchie, als ob das Vorrangsprinzip nur auf die Lösung von Konflikten zwischen nationalen und unionalen Normen Anwendung fände. Er klammert somit die mit der Bestimmung der Unionskompetenzen verbundene Problemstellung aus, obwohl diese Vorbedingung jeder Anwendung des Vorrangsprinzips ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Conseil constitutionnel den VVE ausdrücklich in die Kontinuität der Vorgängerverträge stellt, um so die Vorrangstellung der französischen Verfassung bekräftigen zu können. Er flüchtet sich damit in eine statische Sichtweise der europäischen Integration und weigert sich, deren Dynamik und ihre Folgen für die Verflechtung der Rechtsordnungen in Betracht zu ziehen.
bb) Die Verfassung als Schranke der Übernahme des Gemeinschaftsrechts
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Anlässlich der Prüfung der Vereinbarkeit des Primärrechts mit der Verfassung sowie der Prüfung der Ratifikationsgesetze hat der Conseil constitutionnel klargestellt, welche Verfassungsnormen einer Ratifizierung der Verträge entgegenstehen könnten. Diese Normen dürfen nur durch eine Verfassungsänderung modifiziert werden. In seiner am 9. April 1992 zum Vertrag von Maastricht[43] gefällten Entscheidung hat der Conseil constitutionnel seine frühere Rechtsprechung über das Verhältnis von französischem und internationalem Recht neu gestaltet und zusammengefasst. Ihre Leitgedanken wurden anlässlich seiner Prüfung des Vertrags von Amsterdam[44] und danach des VVE[45] bestätigt. Zur Bewertung der Vereinbarkeit einer Vertragsänderung mit der französischen Verfassung wurden vom Verfassungsgericht drei Kriterien herausgestellt:
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Erstens darf der Vertrag nicht in Widerspruch zu einer ausdrücklichen Verfassungsregel stehen. Der Conseil constitutionnel stellt allerdings nur selten ein solches Hindernis fest, da Verträge und Verfassung nicht das gleiche Ziel verfolgen. Die Stärkung der nationalen Parlamente durch den VVE von 2004 hat die Verfassungsrichter dennoch hellhörig gemacht. Die Parlamente sollen danach befugt sein, gegen eine einfache Vertragsänderung vorzugehen (alleiniger Beschluss des Europäischen Rats gemäß Art. IV-444 VVE), obwohl die französische Verfassung dem Parlament eine solche Befugnis nicht zuerkennt. Aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Regelung in der französischen Verfassung zum Äußerungsrecht des Parlaments leitete er die Unvereinbarkeit des Vertrages mit der Verfassung ab.[46]
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Zweitens darf eine Änderung des Primärrechts die durch die französische Verfassung garantierten Grundrechte nicht beeinträchtigen. Diese Garantie basiert auf der Erklärung der Menschenrechte von 1789, der Präambel der Verfassung von 1946 und den vom Conseil constitutionnel entwickelten „von den Gesetzen der Republik anerkannten Grundprinzipien“ (auf der Basis der Präambel von 1946). Vertrat