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Zweitens waren beide Länder über Steuern finanzierte „Militärstaaten“: Sie hatten große Armeen zu führen, zu unterhalten und zu bezahlen und beanspruchten daher eine große Geldsumme von ihren Steuerzahlern. Interessanterweise ist festzustellen, dass Verteidigung und Finanzwesen gewöhnlich nicht zu den Bestandteilen des üblichen Bildes gehören, welches Verwaltungshistoriker zeichnen. Könnte sich das vorherrschende Verständnis ändern, wenn diese Aspekte miteinbezogen würden?
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Drittens hatten beide Regierungen große Kolonialreiche zu verwalten. Das schuf in beiden Ländern einen Verwaltungsapparat mit spezifischer Verwaltungskultur, welche die Professoren aus Oxford und Paris, die zumeist allein die Verwaltung des Mutterlandes betrachteten, weitgehend ausblendeten. Viertens kann man in beiden Ländern während des 19. Jahrhunderts eine zunehmende „rechtsstaatliche Domestizierung der Verwaltung“[48] beobachten. Die parlamentarischen Kräfte entfalteten sich, die gesetzgeberische Tätigkeit nahm zu und die Verwaltung wurde in wachsendem Maße durch die Gesetze gebunden. Das Legalitätsprinzip führte zu einer Unterordnung des Verwaltungsapparats unter das Parlament. Mit der Zunahme der Gesetzgebung im Bereich der Verwaltung gingen eine quantitative wie qualitative Ausweitung der Verwaltungsaufgaben und eine Vergrößerung der Bürokratien einher. Fünftens ist anzumerken, dass dann, wenn es sich bei dem französischen Verwaltungsrecht seinerzeit um ein spezielles und privilegiertes Rechtsgebiet handelte, dies auch auf das englische Recht zutrifft, wo „die britische Krone eine Menge von Sünden zudeckt“[49], ausgehend von dem Prinzip „the King can do no wrong“.
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Nach allem ist das vorherrschende historische Narrativ insofern nicht korrekt, als es der Zentralisierung die Selbstverwaltung und dem Verwaltungsrecht die rule of law gegenüberstellt. Das Narrativ ist das Ergebnis einer gemeinsamen Vorstellung von Unterschieden oder Gegensätzen, die durch die parallel verlaufenden Geschichten Frankreichs und Englands im 19. Jahrhundert und die Entwicklung nationalistischer Bewegungen im 20. Jahrhundert produziert wurde.
Einführung › § 41 Die Entfaltung des Verwaltungsstaates in Europa › V. Die Nachzügler
V. Die Nachzügler
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Der Bericht über die wichtigsten Verwaltungssysteme Europas wäre ohne Berücksichtigung Deutschlands und Italiens nicht vollständig. Diese beiden Länder teilen die charakteristische Besonderheit, dass sie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gebildet wurden. Sie gehören damit zur zweiten Generation westlicher Verwaltungssysteme, die auf die erste Generation der zur Zeit der Renaissance entstanden Verwaltungssysteme (in England, Frankreich und Spanien) folgte. Die Länder der zweiten Generation unterscheiden sich insofern, als Preußen, treibende Kraft der deutschen Vereinigung, sowohl über eine ausgeprägte Bürokratie als auch über eine eigene etablierte Verwaltungskultur verfügte, wohingegen Piemont, treibende Kraft der italienischen Vereinigung, eine schwache Verwaltungsstruktur hatte und dem französisch-napoleonischen Modell folgte.
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Es gab im Wesentlichen vier Besonderheiten, die Preußen während des 17. und 18. Jahrhunderts auszeichneten:[50] Erstens verliefen in Preußen der Prozess der Staatsbildung und die Entstehung einer professionellen Bürokratie parallel. Zweitens setzte sich das Herzstück des preußischen Verwaltungssystems aus Militärbürokraten und dem Steuerrat zusammen. Die Militärbürokraten, die teilweise von Geburts wegen, teilweise aufgrund besonderer Verdienste ausgewählt wurden, hatten die Verantwortung für die stehende Armee inne und entwickelten sich zum Mittelpunkt der wachsenden preußischen Bürokratie. Der Steuerrat war demgegenüber für ein weites Feld von Aufgaben, einschließlich des Einzugs von Steuern, zuständig und wurde zur Ausbildungsstätte für die besten preußischen Beamten. Drittens orientierte sich die Personalauswahl am Leistungsprinzip; zugleich wurde die berufsbegleitende Ausbildung zu einem ausschlaggebenden Faktor auf dem Weg zu den höheren Rängen der Hierarchie. Viertens entwickelte sich ein neues akademisches Fach, die Kameralistik. Die ersten beiden Lehrstühle auf diesem Gebiet wurden im Jahre 1727 an preußischen Universitäten eingerichtet. Kameralistik – der Begriff leitet sich von den „Kammern“, den wichtigsten öffentlichen Dienststellen ab – kann als eine Mischung aus Wirtschafts- und Politikwissenschaften, Statistik und Verfahrenstechnik in Bezug auf die öffentliche Verwaltung beschrieben werden. Einer der interessantesten Aspekte der Geschichte der Verwaltungswissenschaften in Deutschland besteht darin, dass das Recht schrittweise an die Stelle der Kameralistik trat; dieser Vorgang war Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Seitdem dominierte ein „Juristenmonopol“ die Verwaltung.
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Ganz anders stellte sich die Situation in Italien dar. Piemont übernahm sein Verwaltungsmodell von seinem französischen Nachbarn. Die napoleonische Besatzung und der weitreichende Einfluss Piemonts, das eine zentrale Rolle im Vereinigungsprozess spielte, auf die anderen Gebiete der Apenninhalbinsel vermittelten dem französischen Modell eine wichtige Rolle in der anfänglichen Entwicklung des italienischen Verwaltungssystems und des entsprechenden Rechts. Allerdings erfolgte der Import der französischen Institute weder direkt noch umfassend:[51]
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Erstens wurde das Konzept des droit administratif als eines besonderen Rechtskorpus, der sich vom Privatrecht unterscheidet, nicht sofort in das italienische Verwaltungsrechtssystem übernommen. Zumindest in den ersten zwanzig Jahren nach der politisch-administrativen Vereinigung Italiens war das Privatrecht, insbesondere die Regelung durch Verträge, vorherrschend, während öffentlich-rechtliche Elemente fragmentarisch und von sekundärer Bedeutung blieben. Darüber hinaus verfügte die öffentliche Verwaltung nicht über eine generelle Vollstreckungsgewalt, wohingegen den ordentlichen Richtern ein weiter Entscheidungsspielraum zugebilligt wurde, soweit sie Streitigkeiten zu beurteilen hatten, in die der Staat einbezogen war. Zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung (und mit besonderer Intensität gegen Ende des Jahrhunderts hin) vollzog sich jedoch ein Wandel: Die Entscheidungen des Staates wurden nunmehr als imperativ und von höherem Gewicht angesehen als diejenigen privater Individuen. Damit war die Grundlage gelegt für die Entwicklung des Verwaltungsrechts als eines eigenständigen Rechtsgebietes.
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Zweitens gewann der Gedanke der Einheitlichkeit nach der Vereinigung große Bedeutung. Zu den ersten Maßnahmen der nationalen Regierung gehörte die Abschaffung der Regionalbehörden (luogotenenze regionali).[52] Überdies wurde das Recht von Piemont auf das gesamte Staatsgebiet erstreckt mit dem Ziel, die Gesetze zu ersetzen, die in den einzelnen Staaten vor der Vereinigung galten. Drittens war die italienische Ministerialorganisation im Unterschied zu Frankreich nur rudimentär ausgeprägt. Während der ersten zwanzig Jahre nach der Vereinigung gab es nur neun Ministerien, die nicht einmal in allgemeine Abteilungen gegliedert waren. Es fehlte an einer Stelle, die für die generelle Koordinierung zuständig war, und zumindest anfänglich gab es auch kein Verfahren für die Einstellung und Auswahl der Verwaltungselite. Der Zugang zu den Spitzenpositionen, bei dem den Funktionären aus Piemont gewissermaßen eine privilegierte Stellung eingeräumt wurde, erfolgte nach der Dauer der Dienstzeit und wurde damit zu einem nahezu mechanisch ablaufenden Vorgang.
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Viertens wurde der französische Conseil d’État zwar in Italien nachgeahmt, aber nicht sofort nach der Einheit und – wie bereits angedeutet[53]