I. Anwendung des im Verhältnis zu Drittstaaten einschlägigen Unionsrechts
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Das unionale Binnenmarktkonzept verlangt zwar grundsätzlich einen Raum ohne Grenzen im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten, sodass A etwa nicht mehr an die Grundfreiheiten gebunden ist; allerdings ist zu beachten, dass die Liberalisierung des Kapital- und Zahlungsverkehrs gemäß Art. 63 Abs. 1, 2 AEUV für alle Kapitalbewegungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittstaaten gilt – unabhängig von der Staatsangehörigkeit oder Ansässigkeit des Veranlassers oder des Empfängers. A würde damit auch nach dem EU-Austritt Begünstigter der unionalen Kapitalverkehrsfreiheit sein.
Darüber hinaus enthält das Unionsrecht weitere Vorschriften, die im Verhältnis zu Drittstaaten gelten. Dies ist vor allem der Fall bezüglich des Gemeinsamen Zolltarifs sowie der Instrumente der autonomen (gemeinsamen) Handelspolitik (Einfuhrregulierung, handelspolitische Schutzinstrumente), die auf Warenimporte aus Drittstaaten Anwendung finden.
II. Wirtschaftsvölkerrechtlicher Rahmen
1. Formaler Mitgliedschaftsstatuts von A in der WTO
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A ist formal eigenständige Vertragspartei des WTO-Abkommens, dessen Rechtsstellung nach dem EU-Austritt von der parallelen Mitgliedschaft der Union gemäß Art. XI:1 WTO-Übereinkommen unberührt bleibt. Angesichts dessen ist der Rückfall auf die WTO-rechtlichen Vorschriften bei Nicht-Erreichung eines Abkommens zwischen A und der Union über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen zwangsläufige Folge des EU-Austritts.[16]
2. Umfang des WTO-rechtlichen Regulierungsregimes
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Das Regulierungsregime der WTO begründet keinen Freihandel, sondern zielt auf die Erhöhung des Liberalisierungsgrades des internationalen Handels und damit auf einen freieren Handel ab. Es beinhaltet ein umfassendes Antidiskriminierungsregime sowie den „tariffs only“- und „bound tariffs“-Grundsatz.
a) Antidiskriminierungsregime des WTO-Rechts
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In materieller Hinsicht basiert das WTO-System im Wesentlichen auf einem umfassenden Antidiskriminierungsregime, das den Grundsatz der Meistbegünstigung sowie denjenigen der Inländer(gleich)behandlung umfasst. Während nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz ein gegenüber einem WTO-Mitglied gewährter Vorteil auf alle anderen WTO-Mitglieder auszuweiten ist (siehe Art. I GATT; Art. II GATS), verbietet die Inländerbehandlung die Schlechterstellung gleichartiger ausländischer Waren bzw. Dienstleistungen gegenüber inländischen nach deren Markteintritt (siehe Art. III GATT). Im Bereich des GATS besteht die Besonderheit, dass für den Umfang der Verpflichtungen die in den Listen i.S.v. Art. XI:1 GATS vorgenommenen Zugeständnisse maßgeblich sind.
b) „Tariffs only“-/„bound tariffs“-Grundsatz des GATT
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Im Zusammenhang mit dem „tariffs only“-Grundsatz ist zunächst festzuhalten, dass die schlichte Erhebung von Zöllen nicht per se gegen WTO-Recht verstößt. Als offensichtliche Maßnahmen aufgrund des Grenzübertritts sind Zölle im WTO-Recht grundsätzlich ein legitimes Instrument zur Lenkung der Warenströme.[17] Normativ ergibt sich der „tariffs only“-Grundsatz aus Art. XI:1 GATT i.V.m. Art. II GATT. Dabei bestimmt Art. XI:1 GATT, dass Kontingente, Ein- bzw. Ausfuhrbewilligungen wie auch andere Maßnahmen, die den Marktzugang bzw. Marktaustritt von Waren in nicht-tarifärer Art und damit regelmäßig wenig transparenter Weise behindern, verboten sind (siehe dazu Fall 15, Rn. 902 ff.).[18] Art. II:1 GATT schreibt darüber hinaus die Zollbindung der WTO-Mitglieder an die gemäß Art. XI:1 WTO-Übereinkommen beizufügenden Listen der Zugeständnisse und Verpflichtungen vor („bound tariffs“). Die WTO-Mitglieder müssen mittels der Listen untereinander verbindliche Maximalzölle festlegen und dürfen die in den Listen festgelegte Maximalzölle nicht überschreiten.[19] Die Zolllisten sind gemäß Art. II:7 GATT ein Bestandteil des GATT. Mit dem Ausscheiden aus der Union gelten für A die im Rahmen der Zollunion festgelegten Zolllisten nicht mehr. Nach dem EU-Austritt bedarf es daher der Beifügung eigener Listen durch A, die allerdings zunächst auf denen der Union basieren müssten.
c) Beifügung eigener Listen von Zugeständnissen zum GATS
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Eine ähnliche Problematik stellt sich im Zusammenhang mit dem GATS, dem gemäß Art. XI:1 WTO-Übereinkommen ebenfalls Listen spezifischer Verpflichtungen beizufügen sind.[20] Diese sind insbesondere maßgeblich für den Umfang der Verpflichtungen von A in Bezug auf den zu gewährenden Marktzugang gemäß Art. XVI GATS bzw. die zu gewährende Inländerbehandlung gemäß Art. XVII GATS. Mit dem EU-Austritt müsste A entsprechende eigene Listen vorlegen, da die bisher für A geltenden Listen lediglich diejenigen Listen der Union sowie ihrer Mitgliedstaaten sind, aus denen A seine Verpflichtungen aber ableiten kann.
Frage 4: Welche Arten von Abkommen zur Regelung der zukünftigen Beziehungen zwischen der Union und A sind vorstellbar? Welche Vor- und Nachteile bieten die einzelnen Möglichkeiten? Welche unionsrechtlichen und wirtschaftsvölkerrechtlichen Voraussetzungen sind dabei zu beachten?
I. Darstellung der möglichen Abkommensarten einschließlich etwaiger Vor- und Nachteile
1. Option 1: Aushandlung eines Freihandelsabkommen
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Die Aushandlung eines Freihandelsabkommens würde im Vergleich zum WTO-Regime zu einem deutlich höheren wirtschaftlichen Integrationsgrad zwischen A und der Union führen. Das Abkommen könnte etwa nach dem Vorbild des EFTA-Abkommens oder des CETA-Abkommens als tiefer gehendes und umfassenderes Freihandelsabkommen ausgestaltet sein.
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Vorteil eines Freihandelsabkommens zwischen A und der Union wäre zum einen ein privilegierter Zugang zum Binnenmarkt aufgrund der vollständigen Liberalisierung des Warenhandels zwischen A und der Union durch Abschaffung der Binnenzölle. Dass der Dienstleistungshandel von einem Freihandelsabkommen grundsätzlich nicht umfasst ist, ist in der Bewertung als Vor- oder Nachteil für A davon abhängig, welche Bedeutung dieser Bereich für die Volkswirtschaft von A hat. Jedenfalls sind Produktionsfaktoren wie der freie Personenverkehr im Rahmen von Freihandelsabkommen grundsätzlich nicht liberalisiert, sodass A den Zugang von Arbeitnehmern und Gesellschaften aus der Union zum einheimischen Markt unter Einhaltung der einschlägigen WTO-Vorschriften beschränken kann. So kann A insbesondere verhindern, dass inländische Marktteilnehmer nicht dem freien Wettbewerb mit EU-An-/Zugehörigen „ausgesetzt“ sind. Des Weiteren hätte ein Freihandelsabkommen den Vorteil, dass A nicht mehr an die binnenmarktrechtliche Harmonisierungsgesetzgebung der Union gebunden wäre. Infolge des generellen Wegfalls der primär- und sekundärrechtlichen Bindungswirkung gegenüber A wäre A auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (GHEU) nicht mehr unterworfen. Schließlich würde A nicht mehr dem mit der Zollunion einhergehenden Außenhandelsregime der Union unterfallen, sodass A seine Außenhandelspolitik, etwa die Festlegung eigener Zölle oder die Vereinbarung von Handels- und Wirtschaftsabkommen mit Drittstaaten, autonom bestimmen könnte.
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Auf der anderen Seite verlöre A aber auch den Zugang zum Binnenmarkt, soweit er nicht Waren betrifft. Auch wäre ein Freihandelsabkommen mit dem Erfordernis von Ursprungsregeln verbunden, d.h. dass zwischen den verbleibenden 27 EU-Mitgliedstaaten (EU27) und A wieder Zollkontrollen