28Die grammatische Auslegung geht vom Wortlaut des Gesetzes aus. Sie markiert die Grenze zwischen Auslegung und Analogie. Gefragt wird, ob eine bestimmte Interpretation mit dem allgemeinen Sprachgebrauch oder der üblichen Rechtssprache in Einklang steht.
29Systematische Auslegung betrachtet die Stellung der Vorschrift im Gesetz (Gesetzessystematik) und die Stellung des Gesetzes innerhalb der Rechtsordnung (Rechtssystematik).
30|11|Nach den Motiven des Gesetzgebers fragt die historische Auslegung. Entscheidend ist die Entstehungsgeschichte. Quelle zur Ermittlung der Motive sind insbesondere die Gesetzgebungsmaterialien. Dazu gehören v.a. Bundestags- sowie Bundesratsdrucksachen und Protokolle.
31Die teleologische Auslegung stellt auf Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung ab. Entscheidend ist insbesondere der Schutzzweck der Strafnorm.
32In bestimmten Konstellationen kann es neben den soeben benannten „klassischen“ Auslegungsmethoden auch erforderlich sein, die Grundsätze der verfassungskonformen[40] oder unionsrechtskonformen[41] Auslegung heranzuziehen. Der grundsätzliche Vorrang des primären und sekundären Rechts der EU[42] gilt auch gegenüber dem nationalen Strafrecht. Dies hat zur Folge, dass von mehreren möglichen Bedeutungen einer Strafnorm diejenige zu wählen ist, die mit dem Recht der EU übereinstimmt. Zugleich sind jedoch die allgemeinen Grundsätze des nationalen Rechts zu beachten, insbesondere darf eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht dazu führen, dass das Bestimmtheitsgebot, das Rückwirkungs- oder das Analogieverbot faktisch außer Kraft gesetzt wird.[43] Grenze der Auslegung bleibt also auch hier der Gesetzeswortlaut. Die verfassungskonforme Auslegung verfährt auf ähnliche Weise wie die unionsrechtskonforme. Dabei wird die Möglichkeit der Auslegung einer Norm in der Weise eingeschränkt, dass die Auslegung verfassungskonform sein muss, d.h. nicht gegen Wertentscheidungen des GG verstoßen darf.[44]
5. Leitentscheidungen
33BGHSt 22, 235, 236f.; Gesetzesauslegung am Bsp. des Begriffs „gefährliches Werkzeug“ in § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Der Täter stößt den Kopf des Opfers gegen eine Wand und wird hierfür unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung durch den Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs (§ 223a StGB a.F.; § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB n.F.) verurteilt. Er legt hiergegen Revision mit der Begründung ein, eine Wand sei kein gefährliches Werkzeug. – Der BGH kommt unter Heranziehung der allgemeinen Auslegungsmethoden zu dem Ergebnis, dass unbewegliche Gegenstände keine gefährlichen Werkzeuge sein können. Zunächst wehre sich „das natürliche Sprachempfinden (…) dagegen, eine feste Wand (…) als ‚Werkzeug‘ zu bezeichnen.“ Ferner zeigten „die Bsp. aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes (…), dass auch die Gesetzgeber unter Werkzeugen nur solche Gegenstände verstanden haben, die durch menschliche Einwirkung irgendwie gegen einen menschlichen Körper in Bewegung gesetzt werden können.“ Die teleologische Auslegung gebe im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut nicht den Ausschlag: „Allein der Umstand, dass |12|eine weitere Auslegung dem Zweck der Strafschärfung vielleicht besser entsprechen würde (…), rechtfertigt es nicht, von der bisherigen Auffassung abzugehen (…).“ Schließlich berücksichtigt der BGH noch systematische Aspekte: „Körperverletzungen durch Stoßen gegen eine Wand, den Fußboden, durch Sturz aus einem Fenster und dergleichen fallen, wenn sie das Leben des Verletzten gefährden, ohnehin unter § 223a StGB (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB n. F.). Für leichtere Fälle reicht der Strafrahmen des § 223 StGB aus.“
34BGHSt 26, 95ff.; Gesetzesauslegung am Bsp. des Begriffs „auf frischer Tat betroffen“ in § 252 StGB: Ein Dieb befindet sich zwecks Diebstahls von Schmuck und Scheckheften in der Wohnung einer Frau. Dabei trägt er eine Tasche und einen Holzknüppel bei sich. Als die Frau unerwartet in der Wohnung erscheint, versteckt sich der Dieb hinter einer Tür und schlägt die Frau nieder, bevor er entdeckt werden kann. – Der Dieb hat sich nach § 252 StGB strafbar gemacht, obgleich ihn die Frau nicht bewusst wahrgenommen hat. Das Tatbestandsmerkmal „auf frischer Tat betroffen“ setzt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht voraus, dass sich das Opfer über die Anwesenheit des Täters bewusst ist, vielmehr kann ein bloßes raumzeitliches Zusammentreffen ausreichen – der Täter ist „betroffen“, nicht der Entdeckende. Auch Sinn und Zweck der Norm sprechen dafür, dass es für § 252 StGB nicht darauf ankommt, ob das Opfer den Täter wahrgenommen hat, da es nicht sachgerecht wäre, einen Dieb, der Gewalt ausübt, unmittelbar bevor er bemerkt wird, anders zu bestrafen als einen Dieb, der zuschlägt, nachdem er bemerkt wurde.
35BGHSt 37, 89, 91ff.; Nachträgliche Änderung des Grenzwertes der absoluten Fahruntüchtigkeit: Ein PKW-Fahrer führt sein Fahrzeug mit einer BAK von 1,1 ‰ und wird dabei in einen Unfall verwickelt. Die zu dem Zeitpunkt geltende Rechtsprechung nahm eine absolute Fahruntüchtigkeit ab einer BAK von 1,3 ‰ an. Gleichwohl bejahte der BGH die Voraussetzungen einer absoluten Fahruntüchtigkeit und bestrafte den PKW-Fahrer nach §§ 315c Abs. 1 Nr. 1a, 316 StGB. Aufgrund neuer Erkenntnisse der medizinisch-biologischen Forschung sowie den veränderten Verkehrsverhältnissen sei von nun an eine absolute Fahruntüchtigkeit bereits bei einer BAK von 1,1 ‰ zu bejahen. – Die nachträgliche höchstrichterliche Änderung des Grenzwertes begründet keinen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot, da die Änderung nicht auf neuen rechtlichen Wertungen beruht, sondern auf veränderten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Rückwirkungsverbot gilt uneingeschränkt nur für Gesetze, so dass an eine sich ändernde Rechtsprechung weniger strenge Anforderungen zu stellen sind. Diese hat sich an konkreten Lebensverhältnissen zu orientieren und muss flexible Entscheidungen treffen können.
36BGHSt 39, 1, 6ff.; Zeitliche Anwendung des Strafgesetzes: Ein Grenzsoldat der DDR erschießt an der innerdeutschen Grenze vorsätzlich einen Grenzflüchtling. – Wird das Geschehen nach der Wiedervereinigung strafrechtlich verfolgt, so findet hierauf § 212 StGB über Art. 315 Abs. 1EGStGB i.V.m. § 2 StGB Anwendung. Zwar wäre nach § 2 Abs. 1 StGB grundsätzlich DDR-Strafrecht anwendbar, dies gilt jedoch nach § 2 Abs. 3 StGB dann nicht, wenn das bundesdeutsche Strafrecht eine mildere Rechtsfolge vorsieht, was |13|vorliegend aufgrund der in § 213 StGB enthaltenen (und im DDR-Strafrecht fehlenden) Milderungsmöglichkeit der Fall ist.
IV. Aufbau der Straftat
1. Grundlagen
37Der Grundbegriff der „Straftat“ setzt sich aus drei Grundelementen zusammen: Dem Tatbestand, der Rechtswidrigkeit und der Schuld.
Tab. 1:
38Dreigliedriger Straftataufbau
1. | Tatbestand |
2. | Rechtswidrigkeit |
3. | Schuld |
39Diese Aufbauelemente sind im Gesetz vorgezeichnet. Zunächst kann man Unrecht und Schuld unterscheiden. Einerseits gibt es z.B. nach § 34 StGB Taten, die gerechtfertigt sind, andererseits Taten, die – z.B. nach § 35 StGB – entschuldigt sind. Das Unrecht ist der Inbegriff für die allgemeine strafrechtliche Verbotenheit eines Verhaltens (objektiv-genereller Unrechtsvorwurf), während die Schuld die Frage der personalen Zurechnung, die persönliche Vorwerfbarkeit (individueller Schuldvorwurf) betrifft. Beließe man es bei dieser Unterteilung, ergäbe sich ein zweigliedriger Straftataufbau.[45]
40Doch kann das Unrecht seinerseits in Tatbestand und Rechtswidrigkeit untergliedert werden.[46] Im Tatbestand wird beschrieben, wann ein Unwert verwirklicht wird, der strafrechtserheblich ist. Der Deliktstypus wird festgelegt. Auf der Ebene der Rechtswidrigkeit wird geprüft, ob trotz der Unwertverwirklichung das Verhalten rechtmäßig ist. Tötet bspw. A den O in Notwehr, stellt der Tod des O zwar einen strafrechtsrelevanten Unwert dar (§ 212 StGB), jedoch bezeichnet § 32 Abs. 1 StGB das Handeln in Notwehr als „nicht rechtswidrig“. Darin kommt zum Ausdruck, dass das Vorliegen