135Eine Ablehnung der objektiven Zurechnung unter dem Gesichtspunkt der Selbstgefährdung des Opfers kommt jedoch nur solange in Betracht, wie diese tatsächlich eigenverantwortlich erfolgt. Eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung liegt dann nicht vor, wenn der Mitwirkende im Hinblick auf die Gefährlichkeit der vom Opfer vorgenommenen Handlung eindeutig über überlegenes Wissen verfügt. Verschreibt der Arzt A dem heroinsüchtigen Patienten O eine Ersatzdroge und lässt den O darüber im Unklaren, dass diese ebenfalls abhängig macht, so kann ihm die Körperverletzung des O objektiv zugerechnet werden, wenn dieser infolge der Einnahme der Droge tatsächlich abhängig wird.[131] Im Übrigen ist jedoch umstritten, nach welchem Maßstab das Kriterium der Eigenverantwortlichkeit zu bestimmen ist. Teilweise wird die Eigenverantwortlichkeit des sich selbst Schädigenden erst dann verneint, wenn er nach den geltenden Exkulpationsregeln (§§ 20, 35 StGB, § 3JGG) schuldunfähig wäre.[132] Hiernach ist die Veranlassung einer Selbstschädigung nur ausnahmsweise objektiv zurechenbar, namentlich dann, wenn der sich selbst Schädigende schuldlos gehandelt hätte, wenn er anstatt sich selbst einen anderen verletzt hätte. Die Gegenauffassung stellt strengere Anforderungen an die Eigenverantwortlichkeit eines Verhaltens, indem sie sich an den Regeln der Einwilligungslehre orientiert. Hiernach ist die Eigenverantwortlichkeit nur zu bejahen und entfällt die Zurechnung nur dann, wenn der sich selbst Schädigende über eine hinreichende Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt, also die Folgen seines Verhaltens überblicken kann.[133] Die zuletzt genannte Auffassung erscheint vorzugswürdig, da sie dem insbesondere in § 216 StGB zum Ausdruck gebrachten Rechtsgedanken Rechnung trägt, wonach hohe |46|Anforderungen an die Ernstlichkeit eines Einverständnisses in die Schädigung der eigenen körperlichen Integrität zu stellen sind.
136Abzugrenzen von der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung sind die Fälle der einverständlichen Fremdgefährdung. Eine solche liegt dann vor, wenn sich das Opfer in vollem Bewusstsein des Risikos von einem anderen gefährden lässt. Zur Abgrenzung der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung von der einverständlichen Fremdgefährdung werden überwiegend die Kriterien zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme herangezogen, so dass es maßgeblich darauf ankommt, wer den zum tatbestandlichen Erfolgseintritt führenden Geschehensablauf in den Händen hält (Kriterium der sog. Tatherrschaft; vgl. noch Rn. 471f.).[134] Hiernach läge in einer Abwandlung des oben skizzierten Heroinspritzen-Falls keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung, sondern eine einverständliche Fremdgefährdung vor, wenn A dem O auf dessen Bitte Heroin spitzt und O hieran verstirbt. Wie sich das Vorliegen einer einverständlichen Fremdgefährdung auf die Prüfung der objektiven Zurechnung auswirkt, ist weitgehend umstritten. Teilweise wird angenommen, diese sei zumindest dann nach den gleichen Maßgaben wie die eigenverantwortliche Selbstgefährdung zu behandeln, wenn der Erfolgseintritt allein Folge des eingegangenen Risikos ist, das Opfer das Risiko im selben Maß überschaut wie der Gefährdende und sich die Gefährdung nicht auf Allgemeingüter bezieht.[135] Demgegenüber spricht die Rechtsprechung dem Umstand, dass eine Fremdgefährdung einverständlich erfolgt, zumindest dann keinerlei Bedeutung für die Prüfung der objektiven Zurechnung zu, wenn die konkrete Behandlung lebensgefährdend ist. Im Übrigen soll die Problematik allein für die Frage Bedeutung gewinnen, ob eine rechtfertigende Einwilligung des Opfers vorliegt.[136]
137Ebenfalls zu unterscheiden ist die freiverantwortliche Selbstgefährdung von den Retterfällen[137], welche die nachfolgend geschilderte Fallkonstellation betreffen: A zündet das Haus der Eheleute B und C an. Als der 22-jährige Sohn O der Eheleute B und C, der sich außerhalb des Hauses aufhält, das Feuer bemerkt, entschließt er sich sogleich zu versuchen, in das Obergeschoss zu gelangen, um dort Sachen oder Menschen, insbesondere seinen 12-jährigen Bruder, in Sicherheit zu bringen. O gelangt bis in den Flur des Obergeschosses, bricht bewusstlos zusammen und stirbt an den Folgen einer Kohlenmonoxidvergiftung. – Man könnte erwägen, Retterfälle als Veranlassung einer freiverantwortlichen Selbstgefährdung anzusehen und deshalb straflos zu stellen. Mit der überwiegend vertretenen Auffassung ist aber darauf abzustellen, ob die Rettungsmaßnahme sinnvoll und verhältnismäßig ist und so letztlich eine Fremdgefährdung vorliegt: „Einer Einschränkung des Grundsatzes der Straffreiheit|47| wegen bewusster Selbstgefährdung des Opfers bedarf es insbesondere dann, wenn der Täter durch seine deliktische Handlung die naheliegende Möglichkeit einer bewussten Selbstgefährdung dadurch schafft, dass er ohne Mitwirkung und ohne Einverständnis des Opfers eine erhebliche Gefahr für ein Rechtsgut des Opfers oder ihm nahestehender Personen begründet und damit für dieses ein einsichtiges Motiv für gefährliche Rettungsmaßnahmen schafft.“[138] Im soeben skizzierten Brandstiftungs-Fall sind diese Voraussetzungen erfüllt, so dass auch der Tod des O dem A objektiv zuzurechnen ist. Erst recht ist die objektive Zurechnung in Retterfällen zu bejahen, bei denen der Retter aufgrund einer Garantenpflicht tätig wird, also bspw. bei Feuerwehrleuten im Einsatz.
2. Realisierung der Gefahr im tatbestandlichen Erfolg
a) Pflichtwidrigkeitszusammenhang
138Unter dem Stichwort des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs werden Fälle diskutiert, in denen ein pflichtwidriges Verhalten zwar einen tatbestandlichen Erfolg verursacht, dieser aber auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre.[139] Zwar hat der Handelnde hier eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen, jedoch kann ihm der Erfolg unbestritten nicht zugerechnet werden, wenn feststeht, dass auch ein ordnungsgemäßes Verhalten den Eintritt nicht verhindert hätte. Umstritten ist demgegenüber, ob der Pflichtwidrigkeitszusammenhang auch dann entfällt, wenn nicht eindeutig geklärt werden kann, ob es auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten zum Eintritt des Erfolges gekommen wäre. Eine entsprechende Konstellation lag dem vom BGH entschiedenen „Lastwagen-Fall“[140] zugrunde: A überholt mit seinem LKW den Radfahrer O, der eine BAK von 1,96 ‰ aufweist. A hält statt des nach der StVO gebotenen Seitenabstandes von 1–1,5 m nur einen Abstand von 75 cm ein. Während des Überholvorgangs gerät O mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des LKW-Anhängers, wird überfahren und ist auf der Stelle tot. Nach der tatrichterlichen Überzeugung hätte sich der tödliche Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei pflichtgemäßem Verhalten des A ereignet. Diese Überzeugung beruht unter anderem auf der Wahrscheinlichkeit, dass „der Radfahrer das Fahrgeräusch des Lastzuges zunächst nicht wahrnahm, dann plötzlich, als er seiner inne wurde, heftig erschrak, besonders stark reagierte und dabei völlig ungeordnet und unvernünftig sein Fahrrad nach links zog, eine Verhaltensweise, wie sie für stark angetrunkene Radfahrer typisch ist“.
139Die herrschende Vermeidbarkeitstheorie will die objektive Zurechnung nur bejahen, wenn bei rechtmäßigem Alternativverhalten der Erfolg mit an |48|Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen wäre.[141] Begründet wird dies insbesondere damit, dass auch an dieser Stelle der Grundsatz in dubio pro reo Anwendung finden müsse und daher bei unklarem Geschehensablauf zugunsten des Täters davon auszugehen sei, dass der Erfolg auch bei ordnungsgemäßem Verhalten seinerseits eingetreten wäre. Bereits der Umstand, dass sich im Lastwagen-Fall der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei pflichtgemäßem Verhalten des A ereignet hätte, führt hiernach zu einer Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs unter dem Aspekt des rechtmäßigen Alternativverhaltens.
140Die in der Literatur verbreitete Risikoerhöhungslehre geht demgegenüber davon aus, dass die objektive Zurechnung immer schon dann anzunehmen ist, wenn der Täter das Risiko für den Erfolgseintritt unerlaubt und signifikant erhöht hat und der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten möglicherweise ausgeblieben wäre.[142] Eine Verletzung des Grundsatzes in dubio pro reo sei hiermit nicht verbunden, da sich dieser lediglich auf die Schuld- und Straffrage beziehe, nicht aber auf die Deutung ungewisser Geschehensabläufe. Bei Anwendung der Risikoerhöhungslehre wäre im Lastwagen-Fall die objektive Zurechnung zu bejahen. Denn die Nichteinhaltung des Seitenabstands hat das Risiko eines tödlichen Unfalls signifikant und in rechtlich missbilligter Weise erhöht.
141Die Risikoerhöhungslehre vermag in mehrfacher Hinsicht nicht zu überzeugen. Zunächst ist festzustellen, dass sie Verletzungsdelikte (d.h. Erfolgsdelikte) contra legem als Gefährdungsdelikte behandelt. Denn in den Streitfällen, in denen