In einem allein auf die Fallbearbeitung bezogenen Sinne kann man dieses so ermittelte konträre Parteivorbringen als „Streitgegenstand“ bezeichnen. Mit einem prozessualen Streitgegenstand vor Gericht hat das wenig zu tun. Es geht um die aus dem Fall zu ermittelnden streitigen Positionen, auf die das verlangte Gutachten zu gründen ist.
3. Rechtliche Fragestellungen des Falles auf der Grundlage des konkreten Parteivorbringens (3. Stufe)
Mit der Formulierung der rechtlichen Fragestellung oder der mehreren rechtlichen Fragestellungen wird auf der dritten Stufe die Grundlage für die juristische Begutachtung vervollständigt. Gedanklich und arbeitstechnisch geht es bei diesem Strukturierungsschritt darum, aus dem auf der zweiten Stufe ermittelten konkreten Streitbegehren der Beteiligten die rechtlichen Fragen des Falles herauszufiltern und zu formulieren, die begutachtet werden sollen. Dazu müssen diese Rechtsfragen in der einschlägigen Gesetzessprache und mit Hilfe der Systematik der jeweiligen Rechtsmaterie – Staatsorganisationsrecht, Grundrechte, allgemeines Verwaltungsrecht, Polizeirecht, Baurecht, Kommunalrecht etc. – formuliert werden. Jetzt – erst jetzt – sind abstrakte Gesetzes- und Rechtskenntnisse gefragt.
Dieser Arbeitsschritt, die Umsetzung des konkreten streitigen Parteivorbringens in die allgemeinen Rechtsfragen des Falles, die zu begutachten sind, ist der umfassendste und schwierigste. Er liefert aber das, wonach die Bearbeiter suchen: das Prüfungsprogramm für die Erstellung des Gutachtens. Darin sind folgende Teilschritte eingeschlossen:
Erster Teilschritt: zu beantworten ist zunächst die Frage, ob es sich überhaupt um eine öffentlichrechtliche Streitigkeit – verfassungsrechtlicher oder verwaltungsrechtlicher Natur – handelt. Hier sind ggf. Abgrenzungen gegenüber privatrechtlichen Streitigkeiten erforderlich.[7]
Der zweite Teilschritt besteht in der Klärung der Frage, in welchem Verhältnis sich der Rechtsstreit abspielt: im Staat-Bürger-Verhältnis, im Bürger-Staat-Verhältnis, im innerstaatlichen bzw. innerkommunalen Verhältnis (zwischen Staatsorganen, Verwaltungsbehörden, kommunalen Entscheidungsträgern). – Durch einen Blick |13|auf die in der rechtlichen Fallfrage genannten Personen und staatlichen/kommunalen Stellen lässt sich diese Frage in der Regel problemlos und schnell beantworten.
Als dritter Teilschritt folgt dann die rechtlich-systematische Formulierung der Rechtsfragen des Falles, die aus den kontroversen Standpunkten der Beteiligten (unter Ziffer 2) abzuleiten sind.
Der vierte Teilschritt besteht in der Ermittlung der einschlägigen Gesetzes-, Verfassungs- und Verordnungs- oder Satzungsgrundlagen. Diese Ermittlung läuft über die in den formulierten Rechtsfragen enthaltenen allgemeinen Rechtswirkungen, für die passende Grundlagen in den Rechtsfolgen in Betracht kommender allgemeinverbindlicher Regeln gefunden werden müssen. Dann können im Gutachten die Tatbestandsgrundlagen geprüft werden.
Einschlägige Rechtsgrundlagen
Oft passen allgemeine gesetzliche Rechtsfolgen nicht genau zu den konkreten streitigen Rechtswirkungen. Sie müssen dann ggf. auf der Grundlage verschiedener gesetzlicher Regelungen miteinander kombiniert oder entsprechend (analog) angewendet werden.[8]
Welche gesetzlichen Regelungen im Hinblick auf die Fallösung einschlägig sind und der Begutachtung zugrunde gelegt werden müssen, ist immer aus dem konkreten Streitstoff heraus zu beantworten. Der konkrete Streitstoff liefert den Zugang zu derjenigen Rechtswirkung, die im Streit ist: z.B. einem Entschädigungsanspruch, der Gültigkeit eines Gesetzes, der Wirksamkeit eines Verwaltungsakts oder seiner Rücknahme, der Rechtmäßigkeit einer polizeilichen Gefahrenabwehrmaßnahme etc.
Daraus folgt: die gesuchten einschlägigen Gesetzesgrundlagen müssen über die gesetzliche Rechtsfolge gefunden werden.[9] Einschlägig ist jede gesetzliche Rechtsfolge, die der konkret streitigen Rechtswirkung eine Rechtsgrundlage zu liefern vermag (Übereinstimmung von konkreter streitiger Rechtswirkung und abstrakter gesetzlicher Rechtsfolge nach der Art der Rechtswirkung).
Ist diese Übereinstimmung gefunden, konzentriert sich das Gutachten auf die Prüfung des jeweiligen gesetzlichen Tatbestands (Tatbestandselemente plus richtige Anwendung im Einzelfall (Ermessensfehlerfreiheit, Verhältnismäßigkeit).
4. Gutachterlicher Prüfungsauftrag (4. Stufe)
Die generelle und umfassende Frage am Ende der Aufgabenstellung enthält zugleich den gutachterlichen Prüfungsauftrag. In der Regel weicht dieser Prüfungsauftrag inhaltlich und umfänglich nicht von den konkreten rechtlichen Fragestellungen ab, die auf der 3. Stufe ermittelt und formuliert worden sind. Es kann aber zu folgenden Abweichungen kommen, denen dann gutachterlich gefolgt werden muss.
Der gutachterliche Prüfungsauftrag kann:
|14|Einschränkungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten konkreten Rechtsfragen enthalten. Wenn es beispielsweise im Hinblick auf eine verwaltungsgerichtliche Klage heißt: „Ist die Klage des X gegen das Land L begründet?“, wird nur nach der Begründetheit gefragt und ist die prozessuale Zulässigkeit der Klage nicht zu prüfen. Mitunter wird die Prüfung bestimmter Gesetzesgrundlagen ausgeklammert, weil sie nicht zum Prüfungsstoff gehören.
Erweiterungen gegenüber den als gutachterlich relevant ermittelten Rechtsfragen enthalten. Dann muss das Gutachten entsprechend erweitert werden, beispielsweise durch Prüfung einer Fallvariante, nach der zusätzlich gefragt wird.
|15|Kapitel 2: Fälle zum Verfassungsrecht – Grundrechte
|17|Fall 1: Körperscanner
Menschenwürde Art. 1 I GG, Allgemeines Persönlichkeitsrecht Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG, präventive Verfassungsbeschwerde gegen geplante Gesetzesvorhaben
240 Abgeordnete der C-, F- und S-Parteien bringen einen Gesetzentwurf im Bundestag ein mit dem Antrag, § 5 Abs. 1 Luftsicherheitsgesetz zu ändern. Die geltende Fassung dieser Bestimmung lautet:
„Die Luftsicherheitsbehörde kann Personen, welche die nicht allgemein zugänglichen Bereiche des Flugplatzes betreten haben oder betreten wollen, durchsuchen oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen. Sie kann Gegenstände durchsuchen, durchleuchten oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen, die in diese Bereiche verbracht wurden oder werden sollen.“
Die neue Fassung soll lauten:
„Die Luftsicherheitsbehörde kann Personen, welche die nicht allgemein zugänglichen Bereiche des Flugplatzes betreten haben oder betreten wollen, durchleuchten oder in sonstiger geeigneter Weise überprüfen.“
Durch diese Gesetzesänderung soll der umstrittene Einsatz von Körperscannern auf deutschen Flughäfen als zusätzliche Sicherheitskontrolle ermöglicht werden. Die vorgeschlagene Gesetzesänderung sieht außerdem vor, dass nur eine unstreitig nicht gesundheitsschädliche Terahertz-Technologie für die Durchleuchtung verwendet werden darf.
Anlass für die von den Gesetzesinitiatoren begehrte flächendeckende Einführung von Körperscannern auf deutschen Flughäfen war folgender Vorfall: Ein junger Mann aus dem Jemen, Abdul N., wollte in Frankfurt/Main das Flugzeug auf dem Weiterflug nach New York wechseln. Der islamistisch hochgradig radikalisierte Mann hatte unter der Kleidung am Bein eine Sprengladung aus knetbarem Sprengstoff befestigt. Auf dem Weiterflug nach New York wollte er die Bombe hochgehen lassen und das vollbesetzte Flugzeug zum Absturz bringen. Auf dem Weg zu seinem „Gate“ (Eingangsstelle für den Weiterflug) begegneten ihm zwei Beamte der Bundespolizei mit Spürhunden für die Drogenfahndung. Einer der Hunde sprang den entgegenkommenden Abdul N. unvermittelt an und biss ihn in das Hosenbein. Bei der anschließenden Körperkontrolle wurde die Bombe entdeckt.
Der Fall erregte in Sicherheitskreisen großes Aufsehen und verschärfte den