Die erste Fallfrage verlangt eine Auslegung der für die Grundrechtsgeltung einschlägigen Verfassungsbestimmung des Art. 19 Abs. 3 GG nach den allgemeinen Regeln der Verfassungsinterpretation (wörtliche, historische, systematische und teleologische Auslegung). Auch die systematische und teleologische Auslegung müssen hierbei grundsätzlich im Regelungskontext des Grundgesetzes bleiben. Ob und inwieweit im Hinblick auf die von Art. 19 Abs. 3 GG erfassten Sachverhalte auch auf europäisches Unionsrecht einzugehen ist, ist eine Frage, die aus dem Grundgesetz |34|beantwortet werden muss. Für die Auslegung und Anwendung europäischen Rechts ist das BVerfG im Rahmen des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nicht zuständig.
Bei der zweiten Fallfrage ist demgegenüber sehr wohl auf europäisches Unionsrecht einzugehen, allerdings unter der besonderen Fragestellung der Reichweite des „Anwendungsbereichs der Verträge“, von der auch die Anwendbarkeit des Diskriminierungsverbots in Art. 18 AEUV auf den vorliegenden Fall abhängt. Das BVerfG ist stillschweigend und ohne Begründung bei seiner Berufung auf Art. 18 AEUV davon ausgegangen, dass der Anwendungsbereich der Verträge eröffnet sei. Diese stillschweigende Annahme ist anhand der einschlägigen Regeln über den Geltungsbereich deutschen Verfassungsrechts und europäischen Unionsrechts überprüfungsbedürftig.
Für Einschränkungen oder Erweiterungen dieser Rechtsfragen enthalten die Sachverhaltsangaben keinerlei Anhaltspunkte.
Gutachten
Erste Fallfrage: Ist die Entscheidung des BVerfGs mit Art. 19 Abs. 3 GG vereinbar?
Zur Beantwortung dieser Frage ist Art. 19 Abs. 3 GG auszulegen. Die Regeln der Auslegung von Verfassungsbestimmungen folgen grundsätzlich den klassischen Regeln der Gesetzesauslegung, zusätzlich erweitert um die Regel verfassungskonformer Gesetzesinterpretation, die aber im vorliegenden Fall keine Rolle spielt.
Auslegung (Grundlagen)
Auslegung im Rechtssinne ist Auslegung von Rechtstexten (Verfassungstext, Gesetzestext, Verordnungs- und Satzungstext (= allgemeinverbindliche normative Texte), Vertragstext, Erklärungstext (bilateral, einseitig verbindliche Texte). Für Normtexte, Vertragstexte und individuelle rechtsgeschäftlichen Erklärungen gelten unterschiedliche Auslegungsregeln, für die es nur zum Teil gesetzliche Grundlagen gibt: Auslegung einer Willenserklärung (§ 133 BGB), Auslegung von zivilrechtlichen Verträgen (§ 157 BGB), Auslegung völkerrechtlicher Verträge (Art. 31 WVRK).
Die Regeln der Auslegung normativer Texte (Verfassungs- und Gesetzesauslegung) sind nicht gesetzlich geregelt. Sie sind in der Rechtswissenschaft entwickelt und in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung (BVerfG, BGH) auf eine verbindliche Grundlage gestellt worden. Für die Auslegung von Verfassungsbestimmungen hat das BVerfG auf der Grundlage der klassischen Regeln für die Gesetzesauslegung einige weitergehende Auslegungsregeln entwickelt (verfassungskonforme Auslegung, Konkordanz von Verfassungsnormen).
|35|Gesetzesauslegung
In seinem Urteil vom 21. Mai 1952 hat sich das BVerfG[12] für die Auslegung von Gesetzesvorschriften zu den klassischen Regeln der Gesetzesauslegung bekannt: Dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung (grammatische Auslegung), den Anhaltspunkten für das richtige Verständnis des abstrakten Wortlauts aus den parlamentarischen Gesetzgebungsmaterialien (historische Auslegung), die systematische Kontrolle und ggf. Korrektur der Textbedeutung durch den regulatorischen Sinnzusammenhang, den eine einzelne Gesetzesbestimmung aus ihrem Gesamtzusammenhang mit den anderen Bestimmungen des jeweiligen gesetzlichen Regelungswerks erfährt (systematische Interpretation), sowie schließlich dem Zweck der Gesetzesbestimmung (teleologische Interpretation), womit wohl überwiegend die Bemühung des Interpreten um eine im konkreten Streitfallkontext zu realisierende Regelungsabsicht des Gesetzgebers zu verstehen sein dürfte. Grundprobleme der teleologischen Gesetzesauslegung sind bis heute nicht gelöst. Sie bewegen sich zwischen der (imaginären) Suche nach einem angeblich im Gesetzestext zum Ausdruck kommenden „objektiven Willen“ des Gesetzgebers (BVerfG)[13] und einer (deutlich realistischeren) Konkretisierungsarbeit, um den konkreten Streitfall an die für diesen Fall schrittweise zu erarbeitende einschlägige Bedeutung des abstrakten Gesetzestextes heranzuführen (Friedrich Müller)[14]. Erst wenn diese fallbezogene Arbeit geleistet ist, so die Grundthese, sei eine konkrete Fallösung durch den Gutachter oder den Richter möglich.
1. Wortlautinterpretation
Nach dem Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG gelten die Grundrechte „auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf sie anwendbar sind“. Dieser Wortlaut ist eindeutig. Einer erweiterten Anwendung der Grundrechte der Art. 1 bis 17 GG auf nichtdeutsche, also auf ausländische juristische Personen, steht dieser Wortlaut entgegen. Mit einer solchen erweiterten Anwendung wäre die Wortlautgrenze des Art. 19 Abs. 3 GG überschritten.
2. Historische Auslegung
Nach den Angaben im Sachverhalt zu den einschlägigen Beratungen über die Fassung des Wortlauts des Art. 19 Abs. 3 GG war der Verfassungsgeber der Auffassung, dass eine erweiterte Geltung deutscher Grundrechte auf nichtdeutsche juristische Personen angesichts der geringfügigen Rolle ausländischer juristischer Personen im damaligen Deutschland nicht erforderlich war. Auf der Grundlage dieser Einschätzung wurde die begrenzende Formulierung „nur … inländische juristische Personen“ in den Text aufgenommen. Das ist ein kontextbezogener Geltungsausschluss für ausländische juristische Personen, dem aber keine dauerhafte normative Schranke für etwaige spätere Erweiterungen des Geltungsbereichs auf nichtdeutsche juristische Personen entnom|36|men werden kann. Ob eine solche Geltungserweiterung inzwischen stattgefunden hat, lässt sich einer rein historischen Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG nicht entnehmen.
3. Systematische Auslegung
Durch systematische Auslegung können erweiternde, einschränkende oder auch nicht vom Wortlaut getragene sinnverändernde Bedeutungsgehalte von Einzelbestimmungen des Grundgesetzes aus übergreifenden Regelungszusammenhängen ermittelt werden, in dem die auszulegende Grundgesetzregelung mit allen anderen Bestimmungen des Grundgesetzes steht. Ein zweites Element systematischer Auslegung wird der vorausgesetzten Einheit der Verfassung entnommen. Aus ihr folgt das Gebot, dass keine Verfassungsbestimmung mit einer anderen in Widerspruch stehen darf.
Aus übergreifenden Regelungszusammenhängen des Grundgesetzes lässt sich eine im System des Grundgesetzes angelegte Bedeutungserweiterung des Art. 19 Abs. 3 GG im Sinne einer Grundrechtsgeltung auch für ausländische juristische Personen nicht entnehmen. Nach dem System des Grundgesetzes können Träger von Grundrechten nur entweder jedermann oder deutsche Staatsbürger sein. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des jeweiligen Grundrechts. Eine auf innerhalb der EU ansässige Wirtschaftsunternehmen ausgerichtete Grundrechtsträgerschaft nichtdeutscher juristischer Personen ist dem System des Grundgesetzes fremd. Diese Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG steht auch mit keiner anderen Bestimmung des Grundgesetzes in Widerspruch. Zu denken wäre allenfalls an Art. 23 Abs. 1 GG, wonach die Bundesrepublik Deutschland an der Verwirklichung eines vereinten Europa mitwirkt und hierbei einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. In diesem Verfassungsauftrag bleibt das im Grundgesetz verankerte System des Grundrechtsschutzes als Maßstab erhalten, also auch die auf jedermann und deutsche Staatsangehörige begrenzte Grundrechtsträgerschaft. Im Recht der Europäischen Union verankerte Wirtschaftsgrundrechte von in Europa ansässigen Unternehmen gehören mit dem Unionsrecht einer gesonderten Rechtsordnung an. Bei dem in den Primärverträgen verankerten europäischen Unionsrecht und dem deutschen Grundgesetz handelt es sich um zwei unabhängig voneinander bestehende Rechtsordnungen. Zwischen ihnen bestehen keine systematischen Regelungszusammenhänge.
4. Teleologische Auslegung
Durch teleologische Auslegung wird der im objektiven Regelungsgehalt des Gesetzes enthaltende Sinn und Zweck der Regelung – also das Regelungsergebnis, das mit ihr erreicht werden soll – als Maßstab für die Ermittlung des Bedeutungsgehalts des Gesetzes herangezogen.
Im vorliegenden