Dieser kurze chronologische Abriss macht bereits deutlich, dass das gegenwärtige deutsche kirchliche Individualarbeitsrecht maßgeblich durch einen Konflikt zwischen nationalem Verfassungsrecht und Europarecht geprägt ist. Nachfolgend soll daher zunächst der vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht vermittelte Schutz dargestellt werden, wie er insbesondere durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten und bei einer arbeitgeberseitigen Sanktionierung als Reaktion auf deren Verletzung konkretisiert wurde (a). Dem sind in einem zweiten Schritt die Einwirkungen des europäischen Rechts gegenüberzustellen (b).
a) Der vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gewährleistete Schutz
aa) Personalauswahl
Grundsätzlich bevorzugen es die Kirchen, ihre eigenen Mitglieder zur Erfüllung ihres Sendungsauftrags zu beschäftigen.491 Eine Beschäftigung von Arbeitnehmern, die keine mit der kirchlichen Einrichtung übereinstimmende Konfession aufweisen, ist zwar auch nach dem Leitbild der kirchlichen Dienstgemeinschaft grundsätzlich möglich; jedenfalls für diejenigen Tätigkeiten, die eine besondere Nähe zum Sendungsauftrag aufweisen, kommen nach dem kirchlichen Selbstverständnis aber nur Kirchenmitglieder in Frage. Andernfalls wäre die Glaubwürdigkeit der Einrichtung infrage gestellt und sie liefe Gefahr, ihre spezifisch kirchliche Identität zu verlieren. Diese Notwendigkeit resultiert aus der Konzeption der Dienstgemeinschaft, da diese auf eine Weise personell beschaffen sein muss, dass die kirchliche Einrichtung den Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann.
Der verfassungsrechtliche Schutz der kirchlichen Autonomie trägt dem Rechnung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts492 und der herrschenden Meinung in der Literatur493 ist die Personalauswahl der Kirchen vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht geschützt und basiert damit nicht lediglich auf der aus der allgemeinen Vertragsfreiheit folgenden Auswahlfreiheit. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gestattet es kirchlichen Arbeitgebern zur Wahrung der religiösen Dimension ihres Dienstes, die an ihre Stellenbewerber gerichteten Maßstäbe autonom festzulegen. Der Abschluss eines Arbeitsvertrages kann danach etwa von der Zugehörigkeit zur Kirche abhängig gemacht werden.494 Als Reflex einer rechtmäßig an einen Stellenbewerber gerichteten Anforderung ist auch ein entsprechendes Fragerecht zulässig.495
bb) Loyalitätsobliegenheiten und Sanktionierung bei deren Verletzung
(1) Grundlagen
Die Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten sowie die Kündigung des Arbeitsverhältnisses bei ihrer Verletzung ist einer der bedeutendsten Teilbereiche des kirchlichen Arbeitsrechts und kann zu Recht als dessen „Herzstück“496 bezeichnet werden; hier zeigt sich besonders plastisch die Abweichung vom allgemeinen weltlichen Arbeitsrecht. Zahlreich sind die Entscheidungen der Arbeitsgerichte zur Wirksamkeit von Kündigungen wegen eines Verstoßes gegen jene Obliegenheiten;497 das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang seine beiden fundamentalen Entscheidungen zum kirchlichen Arbeitsrecht erlassen.
Die in den arbeitsrechtlichen Regelungswerken der Kirchen bestimmten Loyalitätsobliegenheiten betreffen letztlich die allgemeine Lebensführung und damit insbesondere das außerdienstliche Verhalten der Arbeitnehmer. Als Ausprägung der in den §§ 242, 241 Abs. 2 BGB verankerten vertraglichen Nebenpflichten werden derartige Bindungen im allgemeinen Arbeitsrecht nur sehr zurückhaltend anerkannt.498 Insbesondere ist der weltliche Arbeitgeber durch den Arbeitsvertrag nicht zum Sittenwächter über die in seinem Betrieb tätigen Arbeitnehmer berufen.499 Die private Lebensführung des Arbeitnehmers darf im Zusammenhang mit der Leistungstreuepflicht wegen der Berücksichtigung dessen allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG nur eingeschränkt werden, sofern sich dies unmittelbar durch die zu erbringende Arbeitsleistung rechtfertigen lässt.500 Daran sind insbesondere vertragliche Regelungen zu messen. Als „echte“ Loyalitätsobliegenheit hat der Arbeitnehmer in einem weltlichen Arbeitsverhältnis unter Abwägung mit seinem Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 GG nur zu berücksichtigen, auch durch außerdienstliches Verhalten nicht den Ruf des Arbeitgebers zu schädigen.501
Aus Perspektive der Kirchen besteht aber ein darüber hinausgehendes Bedürfnis, ihre Arbeitnehmer zur Beachtung der wesentlichen Grundsätze ihrer Glaubenslehre zu verpflichten und entsprechendem Fehlverhalten mit Sanktionen begegnen zu können. Dieses Erfordernis basiert maßgeblich auf dem Leitbild der Dienstgemeinschaft. Denn daraus folgt die an die kirchlichen Arbeitnehmer gerichtete Anforderung einer hinreichenden Identifikation mit der religiösen Dimension ihres Dienstes. Da der kirchliche Dienst eine Lebens- und Wesensäußerung der Kirche ist, erwartet die Kirche von ihren Mitarbeitern, dass diese sich sowohl in ihrem beruflichen als auch persönlichen Verhalten an den grundlegenden Wahrheiten und Normen des Glaubens orientieren.502 Kirchlicher Dienst als Bekenntnis und Zeugnis des Glaubens verlangt mithin mehr als vertragsgemäße Arbeit nach dem üblichen Verständnis des Arbeitsrechts.503
Zudem können die Glaubwürdigkeit und die spezifische Eigenart kirchlicher Einrichtungen nur gewahrt werden, wenn die Lebensführung und somit auch das außerdienstliche Verhalten der Beschäftigten nicht im Widerspruch mit den kirchlichen Grundüberzeugungen steht.504 Der kirchliche Dienst setzt die grundlegende Bereitschaft voraus, auch das private Leben danach einzurichten, dass es der Sendung der Kirche und dem Verkündigungsauftrag nicht widerspricht.505 Nur auf diese Weise kann der kirchliche Sendungsauftrag im Zusammenwirken einer Gemeinschaft des Dienstes erfüllt werden. Die Dienstgemeinschaft reicht mithin über den Bereich der Tätigkeit in der Einrichtung bis in die private Sphäre hinein.506 Diese Konzeption wird durch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht geschützt.
Auseinandersetzungen über die Verletzung von Loyalitätsobliegenheiten werden vor allen Dingen dann virulent, wenn ein kirchlicher Arbeitgeber aus diesem Grunde arbeitsrechtliche Sanktionen – etwa in Form des Ausspruchs einer Kündigung – ergreift. Zur Beurteilung der Wirksamkeit einer solchen Kündigung sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Wesentlichen zwei Prüfungsschritte vorzunehmen:507 Zunächst stellt sich die Frage, ob eine spezifische Loyalitätsobliegenheit für das Arbeitsverhältnis verbindlich gemacht wurde und ob der Arbeitnehmer diese verletzt hat; auf dieser Grundlage kann sodann geprüft werden, ob jener Verstoß den kirchlichen Arbeitgeber zu einer Kündigung berechtigt.
(2) Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen beiden fundamentalen Urteilen zum kirchlichen Arbeitsrecht festgestellt, dass die Kirchen auf der Grundlage ihres Selbstbestimmungsrechts aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV und der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ihren Arbeitnehmern die tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre auferlegen und von diesen verlangen können, nicht gegen die fundamentalen Verpflichtungen zu verstoßen, die sich aus der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben.508 Dogmatisch betrachtet wird die Norm des § 241 Abs. 2 BGB damit gewissermaßen durch die kirchliche Autonomie überlagert und modifiziert.509 Die Verschmelzung von Vertragsfreiheit und Selbstbestimmungsrecht gewährt den Kirchen damit einen Freiraum, der gewöhnlichen Arbeitgebern nicht zusteht, zur Erbringung des kirchlichen Diensts aber unabdingbar ist.
Wegen ebenjener privatrechtlichen Begründung der Arbeitsverhältnisse bedarf es dafür zunächst einer hinreichend bestimmten vertraglichen Regelung jener Obliegenheiten,510 die regelmäßig durch eine Bezugnahme auf das jeweilige kirchliche arbeitsrechtliche Regelungswerk erfolgt. Da der Arbeitnehmer nur auf dieser Grundlage an die Obliegenheiten gebunden werden kann, müssen ihm deren Inhalt und Reichweite sowie die Konsequenzen eines