b) Rechtswissenschaftliche Rezeption
Obgleich die „Bereichslehre“ auch von der Rechtsprechung106 lange angewendet wurde, war sie stets der Kritik ausgesetzt.107 Ihr Vorteil könne zwar darin gesehen werden, dass sie zu vorhersehbareren Entscheidungen führe, da die gerichtliche Entscheidungsfindung keine Abwägung im Einzelfall voraussetze.108 Allerdings liege der „Bereichslehre“ selbst bereits eine Abwägungsentscheidung zugrunde.109 Der Bereich der inneren Angelegenheiten werde von vornherein ohne transparente Argumentationslinie in einer Weise gewichtet, die eine staatliche Einwirkung gänzlich ausschließe.110 Aber auch umgekehrt verhindere die „Bereichslehre“ die Möglichkeit, durch den Ausgleich der kollidierenden Rechtsgüter eine Einzelfallgerechtigkeit sicherzustellen.111 Ferner finde die Aufspaltung der eigenen Angelegenheiten in innere und äußere Bereiche keine Stütze im Wortlaut der Norm.112
Die „Jedermann-Formel“ ist aus Sicht einiger Literaturstimmen ebenfalls nicht frei von Widersprüchen: So könne sie bspw. nicht konsequent im Bereich der staatlichen Regelung von Zivilehen und Kirchenaustritten angewendet werden, da diese das kirchliche Selbstverständnis in besonderem Maße strapazieren würden.113
3. Güterabwägung und Wechselwirkungslehre
a) Konzept
In der neueren Literatur wird eine an die Bewertung des Begriffs des „allgemeinen Gesetzes“ i.S.v. Art. 5 Abs. 2 GG anknüpfende Definition gewählt, wonach sich das „für alle geltende Gesetz“ nicht speziell gegen die Religionsgemeinschaft bzw. die Religion wenden dürfe.114 Vielmehr müsse das Gesetz einem unabhängig vom Selbstbestimmungsrecht schützenswerten Recht oder Rechtsgut dienen.115 Das BVerfG folgt diesem Ansatz und wendet in seiner neueren Rechtsprechung, ohne ausdrücklich von früheren Ansätzen abzurücken, einen „differenzierten Verhältnismäßigkeitsmaßstab“ an.116 So wie die Dogmatik zu Art. 5 Abs. 2 GG nicht bei dem Verbot von Sondergesetzen verharrte, sondern einen verfeinerten Schutzstandard mit der Möglichkeit einzelfallgerechter Entscheidungen anstrebte117, trägt das BVerfG mit Zustimmung großer Teile der Literatur118 dem Gedanken der Wechselwirkung kollidierender Verfassungsrechte durch eine besondere Güterabwägung Rechnung.119 Das Selbstbestimmungsrecht der Kirche müsse danach in allen inneren wie äußeren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaft mit denjenigen Rechtsgütern abgewogen werden, die durch das einschränkende Gesetz geschützt werden, wobei sich beide Positionen weitestgehend verwirklichen sollen.120
Beim Ausgleich der gegenläufigen Interessen sei die vorbehaltlose Sicherung der korporativen Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu beachten, da dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften in besonderem Maße Bedeutung zukomme.121 Wo die Rechtsordnung das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis des Grundrechtsträgers voraussetze, verletze der Staat die Eigenständigkeit der Religionsgemeinschaft und ihre verfassungsrechtlich verankerte Selbstständigkeit, „[…] wenn er bei der Auslegung der sich aus dem Bekenntnis ergebenden Religionsausübung das Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde […]“.122 Das kirchliche Proprium sei nach Auffassung des BVerfG „[…] als elementarer Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG verfassungsrechtlich geschützt.“123 Das einschränkende Gesetz müsse demnach stets „im Lichte der Bedeutung“ des Selbstbestimmungsrechts gewertet werden, wobei dessen Auslegung auch Rang und Gewicht des kollidierenden Rechtsguts zu beachten habe.124
b) Rechtswissenschaftliche Rezeption
Die Eröffnung von Abwägungsspielräumen für die Rechtsprechung begegnet mitunter grundsätzlicher Kritik. So wird vertreten, die Güterabwägung entbehre mangels „normativer Anhaltspunkte“ in der Verfassung eines dem Rechtsstaatsprinzip genügenden inhaltlichen Maßstabs.125 Das Verfassungsprimat könne nur durch eine Rechtspraxis bewahrt werden, die sich „[…] in den Fesseln rechtspositivistischer Auslegungsregeln […]“ bewege.126 Unter dem Gesichtspunkt der durch die Gewaltenteilung bestimmten Kompetenzen plädiert ein Teil der Literatur für eine Interpretationsbegrenzung im Rahmen der Einzelfalljudikatur.127 Die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips erfordere eine „Verallgemeinerungsfähigkeit“ der Einzelfallentscheidung.128
Weiter kritisieren einzelne Literaturstimmen, die Rechtsprechung messe dem Selbstbestimmungsrecht ein solches Gewicht im Rahmen der Abwägung zu, das die effektive Durchsetzung kollidierender Rechtspositionen im Wege der Schrankenregelung verhindere.129 Vorgeschlagen wird eine an abstrakten Fallgruppen orientierte Abwägung, die einen „[…] typisierenden Maßstab für die Lösung konkreter Einzelfälle […]“ ermögliche.130
Demgegenüber gibt ein Teil der Literatur die Anerkennung der Definitionsmacht der Religionsgemeinschaften hinsichtlich der in die Abwägung einzubeziehenden „eigenen Angelegenheiten“ seitens des BVerfG131 zu bedenken.132 Solange die Religionsgemeinschaften die Zuordnungsentscheidung nach ihrem Selbstverständnis treffen würden, werde der Richter nicht zum „[…] Herrn über das Grundverhältnis von Staat und Kirche […]“.133 Ein das Selbstbestimmungsrecht einschränkendes Recht finde aber dort seine Grenze, wo es den Staat zu einer Ordnung verpflichte, die der religiösen Eigenart keinen Raum belässt.134 Der Staat müsse der Religionsgemeinschaft einen Weg ermöglichen, ihre Angelegenheiten unter Berücksichtigung der Charakteristika ihres Ethos zu gestalten, und zwar unabhängig davon, ob das staatliche Recht im Einzelfall Anwendung finde oder nicht.135
4. Stellungnahme
Gegen die überkommene „Heckel’sche“ Formel spricht bereits ihre fehlende Praktikabilität136 sowie ihre Widersprüchlichkeit hinsichtlich der für die Kirche zumutbaren „unerlässlichen“ Regelungen137. Die „Bereichslehre“ vermag ebenfalls nicht zu überzeugen. Die Einwände der Literatur gegen eine Aufspaltung des Begriffs der eigenen Angelegenheiten in einen inneren und äußeren Teil greifen durch: Eine Aussparung des – wenn auch nur verhältnismäßig kleinen – inneren Bereichs von der Schrankenklausel würde auch mit Blick auf den subjektiven Anwendungsbereich der Norm zu bedenklichen Ergebnissen führen. Die Zubilligung einer umfassenden Rechtssetzungsmacht für eine Religionsgemeinschaft kann nur unter der Prämisse der Anwendbarkeit der Schrankenklausel erfolgen. Verfassungsrechtlich geschützte, kollidierende Rechtsgüter wären zwar durch eine fehlende Anwendbarkeit der Schrankenklausel in inneren Angelegenheiten nicht gänzlich schutzlos gestellt, da die Möglichkeit der Beschränkung unter dem Gesichtspunkt der verfassungsimmanenten Schranken verbliebe.138 Gleichwohl birgt die „Bereichslehre“ das Risiko unvorhersehbarer Unbilligkeiten für die Anhänger einer Religionsgemeinschaft sowie für Dritte.
Der „Jedermann-Formel“ ist neben ihrer Widersprüchlichkeit im Bereich der Eheschließung und des Kirchenaustritts auch aus einem weiteren Grunde nicht zu folgen: Die Beantwortung der Frage, ob eine Regelung die Kirche „härter“ trifft oder nicht, und damit im Ergebnis die Schranke greift oder nicht, würde durch die Anwendung der Formel in das Ermessen der Gerichte gestellt werden. Diese müssten unter Auswertung der Standpunkte der jeweils betroffenen Religionsgemeinschaft entscheiden, ob eine religiöse Besonderheit vorliegt, die durch den streitgegenständlichen Eingriff besonders empfindlich berührt wird. Dies mag aufgrund der historisch gewachsenen Beziehung von Staat und Kirche in Deutschland in der Vergangenheit nicht zu problematischen Rechtssprechungsergebnissen geführt haben.139