Das in der WRV normierte Selbstbestimmungsrecht, die „Magna charta libertatis“24 der Kirche, ist durch die „Inkorporation“25 des Art. 137 Abs. 3 WRV über Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes geworden. Es handelt sich bei den Übergangs- und Schlussvorschriften ungeachtet ihrer systematischen Verortung um „vollgültiges Verfassungsrecht“26, welches zusammen mit Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG das „Fundament“27 des deutschen Religionsverfassungsrechts28 bildet. Ergänzt wird dieses Fundament durch den Schutz vor (Un-)Gleichbehandlung gem. Art. 3 Abs. 3 GG sowie Art. 33 Abs. 3 GG. In Bezug auf den Religionsunterricht an staatlichen Schulen bestehen ferner Sonderregelungen in Art. 7 Abs. 2 und Abs. 3 GG sowie die Ausnahmeregelung des Art. 141 GG, die sog. „Bremer Klausel“29.
I. Der persönliche Schutzbereich von Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV
Der personelle Schutzbereich des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV erfasst nach dem Wortlaut der Norm die „Religionsgesellschaften“, für die der modernere und gängigere Begriff der „Religionsgemeinschaft“ synonym verwendet werden kann.30
Die Religionsgemeinschaft ist nach einer grundlegenden Definition aus den 30er Jahren in Abgrenzung zu religiösen Vereinen „[…] ein die Angehörigen eines oder desselben Glaubensbekenntnisses – oder mehrerer verwandter Glaubensbekenntnisse […] – für ein Gebiet […] zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben […]“31. Einer aktuelleren Definition folgend ist sie eine „[…] organisatorisch strukturierte Vereinigung von mindestens zwei Personen, die dem Zweck der gemeinsamen Religionsausübung dient.“32
Folglich ist die Eröffnung des personellen Schutzbereichs nicht allein von der Selbstwahrnehmung einer religiös motivierten Vereinigung oder Gemeinschaft und damit von einem rein subjektiven Kriterium abhängig. Die Zuordnung unterliegt einer gerichtlichen Plausibilitätskontrolle.33 In tatsächlicher Hinsicht muss die Gemeinschaft nach ihrem geistigen Inhalt sowie dem äußeren Erscheinungsbild einer Religionsgemeinschaft im oben genannten Sinne entsprechen.34 Dies setzt zunächst eine auf Dauer angelegte Gemeinschaft voraus.35 Ihre soziale Relevanz und insbesondere ihre Mitgliederstärke wirken sich gem. Art. 137 Abs. 5 S. 2 GG lediglich auf ihren Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts sowie ihre Rechtsfähigkeit aus.36 Dieser Status hat in Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht zunächst aber keine Auswirkungen.37 Ob aber die Religionsgemeinschaft von einer gemeinsamen religiösen Überzeugung getragen wird, ergibt die Subsumtion unter den extensiv auszulegenden Begriff der „Religion“.38
Das BVerfG vertritt die Auffassung, gem. Art. 140 GG i.V.m. Art 137 Abs. 3 WRV stehe allen Einrichtungen der in diesem Sinne anerkannten Religionsgemeinschaften ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform ein abgeleitetes Selbstbestimmungsrecht zu, wenn sie nach dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen seien einen Teil des Auftrags der Religionsgemeinschaft in der Welt wahrzunehmen.39 Dementsprechend erstrecke sich der Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts auch auf privatrechtliche Kapitalgesellschaften in kirchlicher Trägerschaft, soweit deren Tätigkeit nach beiderseitigem Verständnis der selbstbestimmten Funktion der Kirche zu dienen bestimmt sei.40 Erforderlich sei erstens die Teilhabe der Organisation bzw. Einrichtung an der Verwirklichung des Auftrags der Religionsgemeinschaft.41 Zweitens müsse deren Bekenntnis im Einklang mit demjenigen der Religionsgemeinschaft stehen und drittens „[…] mit deren Amtsträgern und Organwaltern in besonderer Weise verbunden […]“ sein.42 In Bezug auf die Kirche bilden die Verkündung des göttlichen Wortes (Prophetie)43, der Vollzug der Sakramente (Liturgie) sowie der „Dienst helfender Liebe“ (Caritas/Diakonie) die grundlegenden Funktionen der Kirche.44 Ein als Kapitalgesellschaft betriebenes Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft sei demgemäß vom Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts erfasst, da die dem Prinzip der tätigen Nächstenliebe entsprechende Krankenfürsorge ein Wesensmerkmal der Kirche darstelle.45 Nach Ansicht des Gerichts sei dabei unbeachtlich, dass andere, weltliche Krankenhäuser „rein äußerlich gesehen“ die gleichen Ziele mit gleichen Mitteln erreichen wollen, da die der Tätigkeit von der Kirche subjektiv beigemessene religiöse Dimension das maßgebliche Unterscheidungskriterium bilde.46
II. Der sachliche Schutzbereich von Art. 140 GG i.V.m Art. 137 Abs. 3 WRV
1. Das „Ordnen“
a) Verfassungsrechtliche Ausgangssituation
Die Selbstbestimmung bei der Ordnung eigener Angelegenheiten i.S.v. Art. 140 i.V.m. Art 137 Abs. 3 S. 1 WRV entzieht dem Staat nach allgemeiner Überzeugung die Möglichkeit, auf die Rechtssetzung der Religionsgemeinschaft Einfluss zu nehmen.47 In der Norm selbst liegt keine Ermächtigung zur kirchlichen Rechtssetzung, da die Regelungsmacht nur für solche Bereiche übertragen werden kann, die der Kompetenz des Staates unterliegen.48 Eine solche Kompetenz ist allein schon aufgrund des staatlichen Neutralitätsgebots in Bezug auf die Beurteilung religiöser Fragestellungen zu verneinen.49 Vielmehr erkennt die Vorschrift eine bereits bestehende Rechtssetzungskompetenz in eigenen Angelegenheiten an. Das Inkrafttreten kirchlicher Regelungen ist nicht von Vorlagen und staatlichen Genehmigungen abhängig.50
Unproblematisch gestaltet sich diese Rechtssetzungsmacht der Religionsgemeinschaften im ausschließlich innerorganisatorischen Bereich. Da allerdings kirchliche Regelungen in eigenen Angelegenheiten auf staatlich reglementierte Lebensbereiche einwirken können, wird teilweise eine Einschränkung der vorbenannten Rechtssetzungsfreiheit der Kirche erwogen: Sofern eine kirchliche Regelungen im weltlichen Bereich Geltung beansprucht, wird diskutiert, ob es hierfür einer „staatlichen Beleihung“ bedürfe.51 Hinsichtlich der Wirksamkeit der eigenständigen Rechtssetzung der Religionsgesellschaft im weltlichen Bereich differenziert die Literatur mitunter zwischen verfassungsrechtlich gebotenen Regelungen und solchen Regelungen, die es nicht sind.52 Wenn die Rechtssetzung von Verfassung wegen geboten sei, müsse die Rechtswirksamkeit bejaht werden, da andernfalls der Staat diese Felder reglementieren könne. Unter diesem Gesichtspunkt sei der Staat verpflichtet, solchen Rechtsakten zur Wirksamkeit zu verhelfen.53
b) Stellungnahme
Der zuletzt genannten Auffassung ist zu folgen. Die Bejahung der Normqualität kirchlicher Regelungen sichert die Verwirklichung des verfassungsrechtlich verankerten Selbstbestimmungsrechts.54 Es war zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes erkennbar, dass das religiöse Leben gerade auch auf weltliche Zusammenhänge einwirkt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich gleichwohl für die Anerkennung der Ordnungsmacht der Religionsgemeinschaften entschieden. Diese „zentrale Grundentscheidung“55 des Verfassungsgebers darf nicht dadurch entwertet werden, dass der Staat den Regelungen unabhängig von der Schrankenregelung des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV ihre Rechtswirksamkeit abspricht.56 Die Frage der Wirksamkeit religionsgemeinschaftlicher Regelungen muss dabei insoweit konsequent beantwortet werden, als dass die Rechtsnormqualität auch der Rechtssetzung neuer, ggf. noch unbekannter Religionsgemeinschaften zuzubilligen wäre.57 Eine mit der staatlichen Verfassungsordnung konkurrierende Rechtsordnung ist gleichwohl nach hier vertretener Auffassung nicht zu befürchten. Die Bejahung des Anwendungsvorrangs setzt eine umfassende Prüfung von Schutzbereich und Schranke des Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV voraus.58 Diese ist mit einer intensiven Abwägung von kollidierenden Grundrechten sowie Rechten und Rechtsgütern