Und hierfür gibt es noch einen weiteren Grund. Mit den enzymatischen und regulatorischen Funktionen von Proteinkomplexen, vor allem in den zentralen molekulargenetischen Prozessen, taucht das statistische Paradoxon Schrödingers in modifizierter Form wieder auf, unbeachtet, da sich die Diskussionen in der „goldenen Ära“ der Molekularbiologie auf regulatorische Aspekte – und die scheinbar alles klarstellenden molekularen Mechanismen – konzentrierten. Schließlich war ja der gesuchte Hauptmechanismus für die Stabilität der Vererbung gefunden: Die identische Verdopplung (Replikation) der DNA ist matrizengesteuert. Als Matrizen für die Synthese der komplementären Stränge dienen die Einzelstränge der Doppelhelix, desgleichen bei der Transkription der DNA in die komplementäre mRNA. Dieses Prinzip findet sich in modifizierter Form auch bei der Proteinbiosynthese: Die zu den Codons der mRNAs komplementären Anticodons spezifischer tRNAs gewährleisten die Zuordnung der Aminosäuren. Hierbei wird der genetische Code umgesetzt, indem jeweils bestimmte Aminosäuren an den spezifischen tRNAs gebunden vorliegen.28 Die mechanistischen Details dieser „Ordnung aus Ordnung“ erzeugenden molekularen Prozesse der Replikation und Genexpression sind in bewunderungswürdigem Ausmaß aufgeklärt worden; dabei trat zunehmend die atemberaubende Komplexität und Vernetzung der zellulären Prozesse zutage.
Doch wie bei Schrödingers ursprünglicher „Beobachtungstatsache“ liegen die DNA-Moleküle (oder RNA-Moleküle bei bestimmten Viren und Phagen) und die mRNAs – und folglich die makromolekularen Matrizen – jeweils nur in einer oder wenigen Kopien vor. Und wie sieht es mit den enzymatisch oder regulatorisch aktiven Proteinkomplexen aus, die in diesen „Ordnung aus Ordnung“ erzeugenden molekularen Kernprozessen involviert sind? – Wie groß ist deren Anzahl? Wenn Schrödingers „statistischer Mechanismus“, der auf dem Gesetz der großen Zahlen beruht, den hochpräzisen Ablauf der Nukleinsäure- und Proteinbiosynthesen und vieler anderer enzymatischer Reaktionen und nicht-enzymatischer Interaktionen in der Zelle sicherstellen müsste, wäre eine sehr große Anzahl von all den verschiedenen interagierenden hoch- und niedermolekularen Molekülen nötig – und entsprechend große Zellvolumina.
Offensichtlich ist dies nicht der Fall. Bakterien und viele eukaryotische Zellen sind außerordentlich klein. Das Darmbakterium Escherichia coli (E. coli), benannt nach seinem Entdecker, dem Kinderarzt Theodor Escherich (1857 - 1911), ist etwa 2 bis 3 Mikrometer (µm) lang, bei einem Durchmesser der stäbchenförmigen Zelle von rund 1 µm (siehe Abbildung 2); hieraus resultiert das winzige Volumen von etwa zwei Femtoliter (2·10-15 Liter). Selbst vergleichsweise große Zellen wie die Eizellen der Säugetiere haben einen Durchmesser von gerade einmal 1/10 Millimeter.29 Und wie wir noch sehen werden, sind beispielsweise regulatorische Proteine wie die Transkriptionsfaktoren oft nur in wenigen Kopien vorhanden, desgleichen bestimmte essentielle Enzyme wie DNA-Polymerasen und mit diesen assoziierte Motorenzyme.
In der Evolution der Zelle wurde auch dieses scheinbare Dilemma gelöst: Proteine und Nukleinsäuren, vor allem die einzigartigen Eigenschaften und interaktiven Funktionen der molekularen Motoren, sowie funktionelle Mikrokompartimente ermöglichen es, das Gesetz der großen Zahlen (und die korrespondierenden großen Volumina) zu umgehen.
Molarer Determinismus
1946 erschien ein Buch mit dem Titel „The chemical kinetics of the bacterial cell“ von Cyril Hinshelwood (1897 - 1967). In diesem Buch wurde der Versuch unternommen, die Prinzipien der klassischen chemischen Kinetik auf Reaktionen in der Bakterienzelle anzuwenden. Ist das gerechtfertigt? – Hinshelwood nahm an, dass Bakterien keine Grobstruktur haben, eine Ansicht, die sich bis in die 1990er Jahre wiederfindet. Aber er äußerte die vorausschauende Ansicht, dass die Zellprozesse eine raum-zeitliche Organisation aufweisen. Ferner diskutierte er die „Autosynthese“ von Makromolekülen – Proteine, Polysaccaride und Nukleinsäuren –, wobei man von Letzteren „allgemein annahm, dass sie eine Schlüsselrolle in den Zellprozessen spielen.“30
ABBILDUNG 2: E. coli-Bakterien (elektronenmikroskopische Aufnahme).
Freilich dauerte es noch mehr als ein Jahrzehnt, bis fundierte Ergebnisse zunehmend an die Stelle von Vermutungen traten. Inzwischen ist unbestritten, dass nicht nur eukaryotische Zellen, sondern auch Bakterien eine komplexe, dynamische Organisation aufweisen. Darüber hinaus unterscheiden sich die Reaktionsbedingungen in Bakterienzellen fundamental von denen im Reagenzglas.
Im Folgenden werden wir auf einige grundlegende physikochemische Begriffe und Theorien eingehen, die für das Verständnis der molekularen Zellprozesse unentbehrlich sind, und die uns zum Leitthema des Buches – Stochastizität von Zellprozessen – zurückführen werden. Da ist zunächst der Begriff der Konzentration. Konzentrationen der Reaktionspartner erscheinen als unabhängige Variable in den kinetischen Gleichungen chemischer Reaktionen. Gleiches gilt für die Beschreibung des chemischen Gleichgewichts – auch hier gehen die Konzentrationen der Reaktionspartner ein, die üblicherweise in Mol pro Einheitsvolumen ausgedrückt werden. Ein Mol eines Stoffes enthält die gigantische Zahl von circa 6,022·1023 Atomen oder Molekülen, als Avogadro-Konstante bekannt, weshalb hier das Gesetz der großen Zahlen beziehungsweise Schrödingers „statistischer Mechanismus“ der Ordnung greift. Der gesetzmäßige Zusammenhang für das chemische Gleichgewicht wird als Massenwirkungsgesetz (MWG) bezeichnet; er wurde erstmals in den Jahren 1864 bis 1867 auf der Grundlage von kinetischen Überlegungen (Betrachtung der Hin- und Rückreaktionen) von dem Mathematiker Cato M. Guldberg (1836 - 1902) und seinem Schwager, dem Chemiker Peter Waage (1833 - 1900), formuliert, später von Josiah W. Gibbs (1839 - 1903) aus den thermodynamischen Potentialen für das chemische Gleichgewicht abgeleitet.31
Die klassischen Theorien der chemischen Kinetik und der phenomenologischen Thermodynamik, speziell das MWG, verkörpern den makroskopischen Determinismus; sie repräsentieren (nahezu) exakte Gesetze und ermöglichen genaue Voraussagen. So sind beispielsweise die das dynamische chemische Gleichgewicht charakterisierenden Konstanten durch den Quotienten der molaren Konzentrationen der Ausgangs- und Endprodukte gesetzmäßig festgelegt. Max Planck, der einen Großteil seiner aktiven wissenschaftlichen Laufbahn thermodynamischen Untersuchungen widmete, benutzte hierfür den Ausdruck Determinismus in der Molarwelt. Weiterhin konstatierte er, dass
Größenordnungsgebiete niemals durch scharfe Grenzlinien getrennt sind, sondern stets allmählich ineinander übergehen. Wir wissen aus der Kolloidchemie und aus der Biochemie, daß es unmöglich ist, molare und molekulare Vorgänge prinzipiell voneinander zu unterscheiden.32
Diese Feststellung wurde durch spätere biophysikalische Untersuchungen bestätigt: Zwischen die makroskopischen und mikroskopischen Systeme schiebt sich die, speziell für intrazelluläre Prozesse, äußerst bedeutsame „Mittelwelt“ der kleinen Systeme. Prozesse auf der physiologischen (interzellulären) Ebene, aber auch eine Reihe von intrazellulären Prozessen, sind im Rahmen des deterministischen Paradigmas beschreibbar. Doch sind es gerade die intrazellulären Kernprozesse, die als stochastisch erkannt wurden.
Zellprozesse in der „Mittelwelt“
Den Gegenpol zu makroskopischen physikalischen oder chemischen Systemen,