Heutzutage wird der Rezeptorbegriff weiter gefasst. In der Zellbiologie bezeichnet der Terminus Rezeptor an Zellmembranen gebundene oder frei bewegliche molekulare Strukturen oder (Makro-)Moleküle, die als Signalüberträger fungieren.32
Bleiben wir vorerst bei Bakterien. Bakterien reagieren auf Umweltreize wie Temperatur, Licht, Sauerstoff oder Nährstoffe mit Bewegungsänderungen. Das mit Hilfe von Flagellen bewegliche Bakterium E. coli reagiert beispielsweise auf Aminosäuren oder Zuckermoleküle in seiner Umgebung. Schon in den 1880er Jahren hatte der Botaniker und Pflanzenphysiologe Wilhelm F. Pfeffer (1845 - 1920) die Chemotaxis demonstriert, indem er gelöste Testsubstanzen in einer einseitig verschlossenen Kapillare in Kontakt mit Wassertropfen brachte, welche mobile Bakterien enthielten. Unter dem Mikroskop beobachtete Pfeffer, wie sich die Bakterien zur Kapillare bewegten und sogar in diese eindrangen (positive Chemotaxis). In anderen Fällen entfernten sich die Bakterien (negative Chemotaxis) Er stellte auch schon die Reaktion auf sehr stark verdünnte Lösungen chemotaktischer Substanzen fest. Bei diesen Beobachtungen blieb es 70 Jahre lang.
In den 1960ern begann Julius Adler ausgehend von der Methode Pfeffers, den Mechanismus der Chemotaxis in E. coli zu untersuchen. Adler erkannte, dass die chemischen Stimuli durch „Systeme“ vermittelt werden, die er Chemorezeptoren nannte. Schließlich fand Adlers Arbeitsgruppe heraus, dass die Signalinformation von den Chemorezeptoren auf eine intrazelluläre Signalübertragungskaskade weitergeleitet wird und zu entsprechende Bewegungen der Flagellen des Bakteriums führt.33
Mittlerweile ist die bakterielle Chemotaxis eines der am besten aufgeklärten molekularen Signalübertragungssysteme. Das E. coli-Bakterium verfügt über fünf Typen von Chemorezeptoren, darunter einen Rezeptor, der die Aminosäure L-Asparaginsäure beziehungsweise deren Salzform L-Aspartat spezifisch bindet. Beeindruckend ist die außerordentliche chemotaktische Empfindlichkeit, die bereits Wilhelm Pfeffer feststellte. Diese kann heute mit präzisen Zahlen untermauert werden: Für die Aspartatrezeptoren einer Zelle genügen drei Moleküle L-Aspartat als Stimulus. Die hohe Empfindlichkeit wird durch die Kooperation von tausenden Rezeptoren erzielt, die in Clustern von jeweils 10 bis 20 Rezeptoren organisiert sind.34
Mit einem speziellen „Tracking“-Mikroskop gelang es Howard Berg und Douglas Brown in den 1970er Jahren die Schwimmbewegungen einzelner E. coli-Bakterien zu verfolgen. Bakterien bewegen sich in einer homogenen Umgebung bis zu mehreren Sekunden lang in eine Richtung, danach tritt durch eine kurzdauernde (~0,1 Sekunden) Taumelbewegung eine Neuorientierung ein. Die eingeschlagene Bewegungsrichtung nach einer Taumelbewegung erfolgt „zufällig“. Wenn dagegen in der Umgebung ein Konzentrationsgefälle eines Nährstoffs, beispielsweise L-Aspartat, existiert, wird durch Reduzierung der Taumelbewegungen und längere Vorwärtsbewegung eine effektive Navigation in Richtung der ansteigenden Konzentration erreicht. Mathematisch lässt sich die Schwimmbewegung durch ein Irrfahrt-Modell mit Richtungsbevorzugung beschreiben.35
Entscheidend für das Schwimmverhalten ist die Drehrichtung der Flagellen. Für den Vorschub in Richtung einer ansteigenden Nährstoffkonzentration rotieren die Flagellen gleichsinnig im Gegenuhrzeigersinn (von der Flagellumspitze zum Bakterienkörper gesehen) und bilden dabei ein Bündel. Die Taumelbewegung kommt durch Umkehr der Drehrichtung einer oder mehrerer Flagellen zustande, wobei sich das Flagellenbündel teilweise auflöst. Dass durch den Wechsel von aktiver Vorwärtsbewegung und Taumeln eine zielgerichtete Bewegung, das heisst Chemotaxis, erreicht wird, ist umso bemerkenswerter, da das Bakterium selbst wegen seiner Winzigkeit der Brown’schen Bewegung unterliegt.
Bei der Aufklärung der intrazellulären Prozesse der Signalübertragung von den Rezeptoren zu den molekularen „Schaltern“ der Flagellenmotoren gab es ebenfalls beeindruckende Fortschritte. Als zytoplasmatischer Signalüberträger dient ein kleines Protein, CheY, das in der vergleichsweise hohen Konzentration von annähernd 8.000 Kopien pro E. coli-Zelle vorkommt. CheY tritt signalabhängig in zwei Formen auf: phosphoryliert (CheY-P) oder ohne übertragene Phosphatgruppe. Das phosphorylierte CheY-P ist sehr kurzlebig (Halbwertszeit im Zentelsekundenbereich). Doch es gelangt durch Diffusion sehr schnell an den Schalterkomplex der Flagellenmotoren, der aus einem Ring von 30 kooperativ umschaltenden Untereinheiten besteht. Durch die Bindung von CheY-P wird die Wahrscheinlichkeit für die Drehung des „Motors“ im Uhrzeigersinn erhöht – und eine Taumelbewegung ausgelöst. Die Bindung von L-Aspartat an den Rezeptorkomplex wirkt dem entgegen: Sie führt zur Unterbindung der Taumelbewegungen, indem die Phosphatgruppen übertragende Proteinkinase gehemmt wird und die Konzentration von CheY-P durch die Abspaltung der Phosphatgruppe durch eine Proteinphosphatase sinkt.
Die komplexe Organisation und Dynamik machen dieses chemotaktische Signalübertragungssystem zu einem paradigmatischen molekularen Interaktionsnetzwerk. Besonders faszinierend sind neben der chemotaktischen Empfindlichkeit auf Nährstoffe die ultrasensitive Reaktion des „Schalters“ auf CheY-P und die Funktionsweise der rotierenden „Motoren“, welche die Flagellen antreiben. Diese „Motoren“ schalten stochastisch zwischen dem Gegenuhrzeigersinn und dem Uhrzeigersinn um.36
Den Proteinen, speziell den Enzymen – und hier vor allem den besonders faszinierenden „molekularen Motoren“ –, werden wir uns als Nächstes zuwenden.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.