2. Vorspiel II auf der Brüsseler Bühne
Als die Bundesregierung am 16.9.1996 den ersten Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts einbrachte, mit dem die Monopolstrukturen in der Energiewirtschaft abgeschafft werden sollten, war in Brüssel schon alles gelaufen. Zwar beschloss die EU über die Liberalisierung für den Elektrizitätsbinnenmarkt erst mit der Richtlinie vom 19.12.199681, einige Monate später. Dabei waren Monopole auch für die Energiemärkte eigentlich durch die Art. 85 und 86 des EWG-Vertrags von 1956 von Anfang an verboten. Aber es hatte bis zum 21.1.1992 gedauert, bis die Kommission nach jahrelangen Vorarbeiten einen ersten Vorschlag für eine Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie vorlegte.82 Er war allerdings gescheitert. Denn die Mitgliedstaaten, ihre Energieunternehmen und der Verbände hatten in Brüssel eine regelrechte Schlacht geschlagen, um der Richtlinie den Biss zu nehmen; mit Erfolg: Der Wirtschafts- und Sozialausschuss hegte ernsthafte Bedenken, das Europäische Parlament meldete eine Vielzahl von Änderungswünschen an und beanstandete vor allem, dass Art. 90 Abs. 2 EGV nicht Rechnung getragen worden war.83 Dort heißt es, dass Einschränkungen des Wettbewerbs zulässig sind, wenn dieser Unternehmen, die mit gemeinwirtschaftlichen Aufgaben betraut sind, die Erfüllung dieser Aufgaben unmöglich macht. In Brüssel reklamierten deshalb die Konzerne, dass sie in den Mitgliedstaaten in großem Umfang gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen erfüllen müssten; zuhause zogen sie allerdings ernsthaft in Zweifel, dass die Energieversorgung überhaupt eine öffentliche Aufgabe sei.84
Die Einigung kam erst zustande, nachdem die Richtlinie den Mitgliedstaaten eine ungewöhnlich große Anzahl von Optionen zur Verfügung gestellt hatte; allerdings schloss sie einige Gestaltungen auch von vornherein aus. Die Angriffe aus den Mitgliedstaaten bestritten der EU schon die Zuständigkeit zu einer gemeinschaftsrechtlichen Ordnung der Energiemärkte; dazu zählte gerade auch Deutschland.85 Im Zentrum der Arbeiten stand der Netzzugang, der sogenannte Third Party Access (TPA): Wettbewerber benötigen freien Zugang zum Kunden, daher war es nötig, die Monopole der Netzbetreiber für die Netznutzung einzuschränken oder vollständig zu beseitigen. Der Blockade eines Anspruchs auf Netzzugang diente in Deutschland vor allem die Berufung der Netzbetreiber auf zwei Grundrechte, nämlich einmal das Grundrecht auf Eigentum in Art. 14 GG und die Freiheit der Berufswahl und insbesondere -ausübung nach Art. 12 GG. Allerdings war zu beachten, dass die für die Beurteilung maßgebliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht etwa auf die Grundrechtsdogmatik der Mitgliedstaaten, insbesondere auch die deutsche, abstellte, sondern auf die gemeinschaftsrechtlich geschützten Grundrechte. Dort hieß es, dass die Grundrechte „keine allgemeine Geltung beanspruchen (können), sondern ... im Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion gesehen werden“ müssen.86 Daher könnten „die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft dienen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Angriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrer Wesentlichkeit antastet“. Daher erschienen die Gestaltungsmöglichkeiten der EU ziemlich weitgehend. Auf der anderen Seite standen freilich die Quasi-Staatsmonopole für die Versorgung mit Strom und Gas in Frankreich, Spanien und Italien, die diese Staaten zu hinhaltendem Widerstand motivierten.
Der erste Entwurf der Elektrizitäts-Richtlinie verzichtete daher von vornherein auf einen Netzzugangsanspruch, dessen Durchsetzung vom Staat überwacht, also reguliert wurde. Stattdessen gab es zwei Modelle zur freien Wahl der Mitgliedstaaten:
– Zum einen den verhandelten Netzzugang, nach dem sich die Vertragspartner auf die Modalitäten des Netzzugangs und insbesondere die Kostenerstattung für die Netznutzung verständigen müssten;
– zum anderen den Netzzugang auf Alleinabnehmerbasis, nach dem der Kunde seine Energie zwar frei einkaufen konnte, diese aber dem Netzbetreiber als „Alleinabnehmer“ überlassen musste, damit dieser sie zum Kunden transportierte.
Beide Modelle gaben dem Netzbetreiber eine starke Position, die absehbar vor allem eins bewirkte: Viel Phantasie bei der Erfindung von echten oder vermeintlichen Hindernissen für den Netzzugang. Beim Alleinabnehmersystem kam zusätzlich hinzu, dass der Netzbetreiber den Kunden als weiterer Vertragspartner für die Lieferung erhalten blieb, was die Bereitschaft zum autonomen Teilnehmen am Markt nicht gerade stärkte.
Außerdem erfand der Richtliniengeber eine weitere Beschränkung des Netzzugangs, die Rechtsfigur des „zugelassenen Kunden“. Am Markt einkaufen konnten danach nur Kunden mit einem Bedarf ab 100 Mio. Kilowattstunden (Gigawattstunde (GWh)); außerdem sollten Verteilerunternehmen – und damit alle von ihnen versorgten Kunden wie kleinere Gewerbeunternehmen und Haushaltskunden – von vornherein vom Wettbewerb ausgeschlossen bleiben.
3. Die Umsetzung in Deutschland
Der Gesetzentwurf, den der liberale Wirtschaftsminister Rexrodt am 16.9.1996 einbrachte87, ging einerseits weiter als die Brüsseler Vorlage: Der Entwurf führte nämlich, rein rechtlich gesehen, eine vollständige Marktöffnung herbei, indem er die §§ 103 und 103a des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) strich, wo die Regelungen zum Schutz der Energiewirtschaft vor Wettbewerb vorgesehen waren: Zum einen die sogenannte Demarkation, ein Recht, das einem Versorger die ausschließliche Zuständigkeit für die Versorgung in einem „markierten“ Gebiet gab; zum anderen das Recht für Kommunen, das ausschließliche Recht für die Verlegung und den Betrieb von Leitungen in ihren kommunalen Straßen und Wegen nur einem einzigen Versorger zu verleihen, die sogenannte Konzession. Allerdings verzichtete er auf einen Netzzugangsanspruch. Stattdessen wurde die Verpflichtung für Kommunen vorgesehen, ihre Wege für den Leitungsbau zur Versorgung von Letztverbrauchern diskriminierungsfrei zu öffnen. Das zielte auf das Instrument des Direktleitungsbaus ab: Ein (großer) Kunde hätte demnach einen Anspruch gegen die Kommune gehabt, ihre Wege für den Bau einer eigenen Direktleitung vom Umspannwerk des Regionalversorgers vor den Toren der Stadt zum Industrienetz zu öffnen. Dieses Instrument sollte die womöglich mildere Alternative, nämlich die Öffnung des Netzes des Regionalversorgers oder des Stadtwerks herbeiführen. Absehbar war allerdings, dass die Drohung, eine Direktleitung zu bauen, zwei bürokratische Hürden enthielt. Zum einen musste die Drohung, eine Direktleitung zu bauen, tatsächlich durch die Vorzeigbarkeit einer – teuren – Entwurfsplanung plausibel gemacht werden. Zum anderen war mit der Kommune über die Möglichkeiten und Kosten der Nutzung kommunaler Straßen und Wege für die Direktleitung zu sprechen, die sich vielfältige Einwendungen zum Schutz ihres konzessionierten Versorgers ausdenken konnte: Beides aufwändig!
Die Beteiligung des Bundesrats war vorgesehen.