Alkoholkonsumverbote auf Plätzen, Verbote gegen das sog. Cornern im Schanzenviertel, Verkaufsverbote, Ausgehbeschränkungen u. Ä. während der Corona-Pandemie usw.
132
Die in der Rechtsprechung bisher unter die öffentliche Ordnung subsumierten Fälle lassen sich regelmäßig bereits über den Rückgriff auf die „öffentliche Sicherheit“ lösen. Ein Auffangtatbestand, wie die öffentliche Ordnung, erscheint deshalb überflüssig.248 Denjenigen, die die „öffentliche Ordnung“ als nötigen Auffangtatbestand für neuartige Gefahrensituationen als notwendig erachten, kann entgegnet werden, dass auch unbekannte Gefahren für Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Persönlichkeitsrecht usw.) bereits von der objektiven Rechtsordnung abgedeckt sind.249
Beispiele:
Ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung ist für den Fall der Obdachlosigkeit gar nicht notwendig, weil Leben und Gesundheit bedroht sind.250 Bei Spielen, die die Tötung von Menschen simulieren, ist die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG als Teil der öffentlichen Sicherheit (objektive Rechtsordnung) betroffen.251 Im Fall der offenen Drogenszene handelt es sich um Kriminalität nach dem BtmG. Auch wird u. U. auf Spielplätzen die Gesundheit spielender Kinder durch infizierte, weggeworfene Einmalspritzen bedroht.252 Maßnahmen können hier auf § 12 b Abs. 2 SOG gestützt werden.
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Zu Recht wird von den Kritikern des Begriffs der öffentlichen Ordnung auch darauf hingewiesen, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft immer weniger verbindliche gemeinsame Moralstandards identifizieren lassen.253 Daneben stellt sich hier auch vielfach das Problem eines Schutzes der Betroffenen „gegen sich selbst“.
Beispiele:
So wurde eine Live Peep-Show 1981 vom BVerwG als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen.254 Eine Veranstaltung, bei der Kleinwüchsige durch kräftige Männer aus dem Publikum möglichst weit geworfen werden sollen, wurde u. a. unter Rückgriff auf die öffentliche Ordnung untersagt.255
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Eine sehr restriktive Auslegung des Schutzgutes „öffentliche Ordnung“ ist wegen Art. 5 und Art. 8 GG im Versammlungsrecht bei der Untersagung von Demonstrationen nach § 15 VersG256 geboten. Das BVerfG hat den Begriff der öffentlichen Ordnung im Versammlungsrecht nochmals konkretisiert:257
„Für den Begriff der öffentlichen Ordnung ist demgegenüber kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertegehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (…).“
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Durch die Einbindung des „Wertegehalts des Grundgesetzes“ in die Definition durch das BVerfG ist der Rückgriff auf die öffentliche Ordnung sehr eingeschränkt worden.258
(2) Bevorstehende Gefahr oder Störung
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Eine „konkrete Gefahr“ ist erforderlich für Einzelfallmaßnahmen nach dem § 3 Abs. 1 SOG, für „besondere Maßnahmen“ nach §§ 11 ff. SOG auch dann, wenn im Tatbestand (nur) „Gefahrenabwehr“259 oder „Gefahr“260 normiert wurden. Entsprechendes gilt auch für Maßnahmen nach dem PolDVG.261
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Eine konkrete Gefahr wird definiert als eine Sachlage, die bei ungehindertem Geschehensablauf aus dem Blickwinkel eines verständigen Beobachters ex ante in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden an einem ordnungsrechtlich geschützten Rechtsgut führen wird.262
Einige Landespolizeigesetze enthalten Legaldefinitionen, vgl. § 2 Nr. 3 lit. a BremPolG; § 3 Abs. 3 Nr. 1 SOG MV; § 3 Nr. 1 lit. a NdsSOG; § 3 Nr. 3 lit. a SOG LSA; § 54 Nr. 3 lit. a ThürOBG.
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Hat sich eine Gefahr bereits realisiert, ist also ein geschütztes Rechtsgut bereits verletzt worden oder dauert die Verletzung noch an, so liegt eine „Störung“ vor.263
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Die konkrete Gefahr ist von der abstrakten Gefahr abzugrenzen, auf die es beim Erlass von Verordnungen (abstrakt-generelle Regelung) nach § 1 SOG ankommt (vgl. B.I.1.a.). Eine abstrakte Gefahr liegt vor, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens bei bestimmten Arten von Verhaltensweisen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Einzelfall ein Schaden an einem polizeilich geschützten Rechtsgut eintreten wird.264 Im Gegensatz zur konkreten Gefahr wird also bei der abstrakten Gefahr nicht auf eine bestimmte konkrete Situation, sondern auf die typischen Konsequenzen eines Verhaltens abgestellt, d. h. es werden allgemeine Erwägungen für generelle Fälle in typisierter Form angestellt.265 Dadurch wird freilich der Grundrechtseingriff vorverlagert.266
Beispiel:
Insbesondere Glasflaschenverbots- oder Alkoholkonsumverbotsverordnungen in Städten oder Gemeinden sind daher von den Verwaltungsgerichten häufig als rechtswidrig angesehen worden.267
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Der Gefahrenbegriff erfordert eine Prognose des hypothetischen Geschehensablaufs (Blickwinkel eines verständigen Beobachters ex ante).268 Insoweit besteht kein Beurteilungsspielraum.269 Die Prognoseentscheidung ist später voll gerichtlich überprüfbar.270 Allerdings muss sich das überprüfende Gericht in die Situation hineinversetzen, die sich dem Beamten aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte (Indiztatsachen)271 und den Erfahrungen des täglichen Lebens darbot, als er seine Entscheidung über ein Einschreiten zu fällen hatte („ex ante“).272 Dabei kommt es gerade nicht darauf an, wie sich die damalige Lage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im Nachgang darstellt.273 Hierauf kommt es auch bei der Abgrenzung der Begriffe „Anscheinsgefahr“ und „Scheingefahr“ (s. unten) an. Anders ist dies allerdings auf der Kostenebene (dazu unter B. V.).
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Die ganz überwiegende Ansicht vertritt heute einen subjektiven Gefahrenbegriff: Subjektiv insoweit, als es auf den Wissenshorizont eines durchschnittlichen und sorgfältigen Beamten ankommt.274 Gefahrensituationen sind regelmäßig durch Eile geprägt. Es würde einer effektiven Gefahrenabwehr zuwiderlaufen, wenn einem sorgfältig handelnden Beamten der Vorwurf der Rechtswidrigkeit gemacht werden könnte, obwohl er sorgfältig gehandelt hat.275
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Das Merkmal „in absehbarer Zeit“ fordert, dass der Schaden nicht erst in ferner Zukunft droht, sondern in hinreichender zeitlicher Nähe zu erwarten ist.276 Hier ist eine Bewertung im Einzelfall gefordert. Abstrakte zeitliche Grenzen lassen sich hier nicht angeben. Entscheidend ist, ob bei weiterem Zuwarten später noch eine effektive Gefahrenabwehr möglich sein wird. Keine Gefahr liegt jedenfalls vor im Zeitpunkt einer nur „latenten“ Störung, bei der es noch wesentlicher Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse bedarf, um eine Störung herbeizuführen.
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Bei einzelnen besonderen Maßnahmen und einzelnen Zwangsmaßnahmen wird eine größere zeitliche Nähe gefordert, etwa eine „unmittelbar bevorstehende Gefahr“277.