III. Wettbewerb unter Dynamik, Wissen und Effektivität
Ausgehend von diesen Darstellungen ergeben sich folgende Ausgangsthesen und Annahmen, die in dieser Arbeit untersucht werden:
• Bei dem Ausdruck „digitale Plattformen“ handelt es sich um einen möglichen Sammelbegriff für besonders innovationserhebliche Lebenssachverhalte;
• Kartellrecht als abgrenzbare rechtliche Materie ist innovationsrelevantes Recht31;
• Wettbewerb als Schutzgut des Kartellrechts ist dynamisch und muss deshalb erstens ständig unter Berücksichtigung neuer wettbewerbstheoretischer Erkenntnisse und Empirie und zweitens unter Berücksichtigung einer Abwägung seiner jeweiligen Zwecke ausgelegt werden;
• Ein dynamischer Wettbewerb kann rechtlich nicht allein an einem Ziel gemessen werden, sondern muss im Rahmen einer an vielfältigen Prinzipien sich orientierenden graduellen Abwägung auf seine Effektivität hin betrachtet werden;
• „Innovation“ ist ein kartellrechtlich erfassbarer Begriff, der über eine bloße Sachverhaltserfassung hinaus einer eigenständigen Einordnung in das geltende Rechtssystem bedarf;
• „Innovation“ kann Entfaltungsfreiraum und Grad des effektiven Wettbewerbs sein;
• Digitale Plattformen sind nach dem geltenden Kartellrecht bereits grundsätzlich erfassbar, jedoch bedarf es hierfür den Besonderheiten mehrseitiger Geschäftsmodelle Bedeutung tragende methodische Argumentationsstrukturen;
• Das Streben nach Monopolstellungen oder Vorsprüngen ist dem effektiven Wettbewerb immanent, kann also nicht durch das geltende Kartellrecht verhindert werden, sondern nur durch den Wettbewerb selbst, der deshalb als Auf- und Abbauprozess zu schützen ist;
• Der Forderung nach einem „perfekten Wettbewerb“ kann als Einwand das Risiko eines innovationsfeindlichen Zustands entgegengehalten werden, der den eigentlichen Zielen des geltenden Kartellrechts zuwiderlaufen würden;
• Ein Prima-facie-Kartellrechtsverstoß kann im Zusammenhang mit Innovationen tatbestandlich ausgeschlossen sein;
• Kartellrechtlich tatbestandliche Maßnahmen können im Zusammenhang mit Innovationen freigestellt sein.
Dabei beschränkt sich die Untersuchung in materiellrechtlicher Hinsicht auf die drei Kernbereiche des Kartellrechts, nämlich das Verbot wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen zwischen mehreren Unternehmen gemäß Art. 101 AEUV bzw. § 1 GWB, das Verbot des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 102 AEUV bzw. §§ 19, 20 GWB sowie die Zusammenschlusskontrolle nach der EU-Fusionskontrollverordnung bzw. §§ 35ff. GWB. Nicht untersucht werden soll das Beihilfenrecht. Sektorspezifische Vorschriften mit marktregulatorischen Bezügen sollen nur betrachtet werden, soweit sich hieraus Rückschlüsse auf den Untersuchungsgegenstand ziehen lassen. Diese „drei Säulen“ des Kartellrechts können in ihrem überschaubaren Wortlautbestand ausgelegt werden, wobei sie sich besonders stark durch unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln auszeichnen. Dies betrifft unter anderem die Begriffe „Wettbewerb“, „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung“, „bezwecken oder bewirken“ beim Verbot wettbewerbsbeschränkender Maßnahmen zwischen mehreren Unternehmen, „missbräuchliche Ausnutzung“, „unbillige Behinderung“, „ohne sachliche gerechtfertigten Grund“, „hohe Wahrscheinlichkeit bei wirksamem Wettbewerb“, „abweichen“ beim Marktmachtmissbrauchsverbot sowie „abhängig“, „ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten“ bei der Sondervorschrift des § 20 Abs. 1 S. 1 GWB zu relativer Marktmacht und schließlich „erhebliche Inlandstätigkeit“ und „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ bei der Fusionskontrolle.
Ziel ist dabei zum einen eine Auslegung der für eine derartige Berücksichtigung von Innovation maßgeblichen rechtlichen Vorschriften. Zum anderen wird die rechtliche Bedeutung von Innovation im europäischen und deutschen Kartellrecht analysiert. Da Innovation in einem Zusammenhang mit Wettbewerb steht, setzt sich ein wesentlicher Teil dieser Arbeit mit der Definition des Begriffs „Wettbewerb“ auseinander und nimmt eine Einordnung des wettbewerblichen Innovationsbegriffs vor. Hierbei soll das Verhältnis zwischen Wettbewerbs- und Rechtsordnung erörtert werden und hieran anknüpfend die Frage diskutiert werden, ob sich überhaupt ein fassbarer Innovationsbegriff ableiten lässt. Im Ergebnis können sich im Zusammenhang mit der hier entwickelten kartellrechtlichen plattformbezogenen Innovationstheorie verallgemeinerbare und auf andere Sachverhalte übertragbare Auslegungs- und Abwägungskriterien ergeben. Methodisch wird angesichts des überschaubaren positiv geregelten Vorschriftenbereichs und der enthaltenen Generalklauseln und offenen Tatbestandsmerkmale eine Wortlautanalyse oder systematische Auslegung eine geringere Bedeutung haben als eine teleologisch-historische Auslegung am eigentlichen Gesetzeszweck. Dabei soll sich diese Arbeit nicht von anekdotischer Evidenz der zunehmenden behördlichen und gerichtlichen Kasuistik leiten lassen, sondern diese vielmehr in einen allgemeinen dogmatischen Zusammenhang stellen und anhand dessen vertretbare Argumentationen für innovationserhebliche Plattformsachverhalte ableiten.
In dem folgenden ersten untersuchenden Abschnitt wird der Lebensbereich digitale Plattform mit seinen gesellschaftlichen und ökonomischen Besonderheiten erläutert. Dabei soll diese Untersuchung zunächst deduktiv ausgehend von gegenwärtigen Beispielen typische Gemeinsamkeiten bei Plattform-Sachverhalten darstellen, anhand derer sich das in der Wirtschaftswissenschaft entwickelte Konzept der „mehrseitigen Wirtschaftszweige“ erörtern lässt und in das geltende europäische und deutsche Kartellrecht eingeordnet werden soll. Er schließt mit der Feststellung, dass digitale Plattformen aufgrund technischer Entwicklungen und sozialer Veränderungen einen besonderen wettbewerblichen Bezug zu Innovation haben. Dieser Ausdruck wird im Weiteren genauer auf ein rechtlich erhebliches Verständnis hin diskutiert. Dabei soll ausgehend von einem sprachlichen Verständnis zunächst ein allgemeiner rechtstheoretischer Ansatz erarbeitet werden, anhand dessen ein allgemeiner sprachlicher Ausdruck rechtlich erheblich sein kann. Unter Berücksichtigung des hierbei erzielten Verständnisses und damit einhergehender Begriffseingrenzungen sollen verfassungsrechtliche Grundlagen sowie philosophische, sozialwissenschaftliche und wettbewerbstheoretische Konzepte zur Innovationstheorie erörtert werden. Diese setzten sich mit der Fragestellung auseinander, wie in innovationserheblichen Sachverhalten überhaupt Recht gefunden und kartellrechtliche Fälle entschieden werden können. Schließlich sollen die jüngeren Entwicklungen in der Rechtspraxis im Zusammenhang mit Plattform-Sachverhalten daraufhin untersucht werden, ob und wenn ja unter welchen Bedingungen eine innovationsbezogene Schadenstheorie bereits besteht oder noch entwickelt werden kann, es also nicht nur um „Innovation und Kartellrecht“ geht, sondern um einen Aspekt der „Innovation im Kartellrecht“. An diesen kartellrechtlichen Schnittstellen anknüpfend wird sich der letzte Abschnitt mit der kartellrechtlichen Bewertung des Verhältnisses zwischen Plattform-Sachverhalten und Innovation befassen.
31 Vgl. zu dieser Aussage bereits Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schneider, Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung, 1998, S. 11.
B. Innovationserheblichkeit digitaler Plattformen
In der Rechtspraxis der letzten Jahre haben digitale Plattformen und damit besonders verbunden datengetriebene Geschäftsmodelle ein zunehmend bedeutenderes Gewicht in der kartellrechtlichen Dogmatik gewonnen.32 Eine einheitliche rechtliche Bewertung oder ein dieser vorausgehendes Verständnis fehlt bislang noch. Evans/Schmalensee sehen die Besonderheiten der Plattform-Wirtschaft in den technischen Entwicklungen der Informations- und Kommunikationstechnologien in Form eines zunehmend kommerziell offeneren Internets seit den mittleren 1990er Jahren sowie dem zusätzlichen Ausbau mobiler Breitbandnetze und damit verbundenen gesunkenen Transaktionskosten.33 Diese Besonderheiten rücken digitale Plattformen in eine besondere Nähe zu innovationsbezogenen Technologien, indem sie diese einerseits