5. Multi-homing und Wechselbewegungen
Viele Nutzer beschränken sich nicht auf eine einzelne Plattform für eine bestimmte Nachfrage, sondern verwenden parallel oder nacheinander unterschiedliche Plattformen. Spiegelbildlich akzeptieren viele Anbieter die Nutzung unterschiedlicher Plattformen. So werden von vielen Händlern unterschiedliche Zahlungsmittel und Kreditkarten für die Abwicklung von Zahlungsvorgängen angenommen.203 Zwischen den einzelnen beteiligten Anbietern und Nachfragern können also Wechselbewegungen bestehen. Multi-homing beschreibt dabei den tatsächlichen Umstand, dass Nutzer mehrere Plattformen in Anspruch nehmen.204
Das Bundeskartellamt ist in mehreren bisherigen Freigabeentscheidungen zu Fusionen davon ausgegangen, dass Multi-homing die Gefahr eines Tipping verringern könne.205 Auch die EU-Kommission nimmt in ihrer Freigabeentscheidung Microsoft/LinkedIn an, dass Multi-homing sich abmildernd auf Netzwerkeffekte auswirken kann.206 Damit handelt es sich zunächst um einen Umstand, dessen Feststellung bei der Bewertung der marktbeherrschenden Stellung hinzugezogen werden kann. § 18 Abs. 3a Nr. 2 GWB setzt dies um und sieht als weiteres mit der 9. GWB-Novelle eingeführtes Kriterium zur Bewertung der Marktstellung bei Plattform-Sachverhalten die „parallele Nutzung mehrerer Dienste und den Wechselaufwand für die Nutzer“ vor.207 Dieser Umstand lässt sich als Einwand gegenüber der Annahme einer Marktstellung annehmen. Trotz stark wirkender Netzwerkeffekt und sogar weiterer monopolistischer Tendenzen könnte gleichwohl die Marktmachtstellung abgeschwächt werden, wenn die Nutzer einfache Möglichkeiten zum Wechsel haben.
6. Preisverteilung
Die Leistungen vieler Plattformen werden häufig an eine Kundengruppe ohne ein unmittelbares monetäres Entgelt angeboten. Rochet/Tirole beschreiben den Unterschied von mehrseitigen Wirtschaftszweigen zu einseitigen damit, dass sich der Anbieter nicht allein für einen Preis entscheiden muss, sondern stattdessen für eine nicht-neutrale Preisstruktur, mittels derer er die Nutzergruppen an Bord holen kann.208 Aufgrund der indirekten Netzwerkeffekte wirken sich Preissetzungen indirekt auf die andere mit der Plattform verbundene Nutzergruppe aus.209 Dies berücksichtigen Plattformen, indem sie die teilnehmenden Nutzergruppen zur Erzielung von Umsätzen häufig preislich unterschiedlich behandeln.210 So wird häufig eine Nutzergruppe mit einem Entgelt belegt, während die andere verbundene Nutzergruppe kein unmittelbares Entgelt leistet und dadurch preislich in Form eines „Nullrabatts“211 begünstigt wird.212 Der Preis gegenüber einer Nutzergruppe liegt dabei häufig oberhalb des sogenannten Monopolpreises, während der Preis für die andere Nutzergruppe dagegen unterhalb des Monopolpreises – häufig auf null – angesetzt wird. Monopolpreis ist dabei der Preis, den ein marktbeherrschendes Unternehmen ohne Wettbewerber aufgrund dieser Marktstellung verlangen kann. Durch die niedrige Bepreisung einer Nutzergruppe bei einem gleichzeitig hohen Preis für die korrespondierende Nutzergruppe kann die Plattform die Masse der Transaktionen, also der erfolgten Vermittlungen, beeinflussen und dadurch Nutzergruppen besser zusammenbringen und zwischen ihnen vermitteln.213 Steigt nämlich aufgrund des niedrigen oder nicht geforderten monetären Entgelts auf der einen Seite die Anzahl der Teilnehmer dieser Nutzergruppe, steigt gleichsam der Wert für die andere Nutzergruppe, weshalb sie ein höheres Entgelt zu zahlen bereit sind. Damit kann gegenüber der Nutzergruppe mit dem Nullrabatt der Preiswettbewerb in seiner Bedeutung zugunsten anderer qualitativer wettbewerblicher Parameter zurücktreten.214 Durch das beschriebene Preissetzungsvorgehen können die Transaktionskosten für die Vermittlung zwischen den Individuen der Nutzergruppen verringert und dadurch wiederum das Transaktionsvolumen, also die Gesamtanzahl der Transaktionen, erhöht werden.215
7. Innovationen
Innovation hat also in der Praxis und Wissenschaft über die Anwendung der kartellrechtlichen Vorschriften eine zunehmende Bedeutung gewonnen.216 Dagegen kann hieraus nicht der Schluss gezogen werden, die Produktinnovation sei der nunmehr allein maßgebliche Wettbewerbsparameter, wie dies Weber zunächst zusammenfasst.217 Zwar treten Preise aufgrund der besonderen ökonomischen Umstände der Internetwirtschaft auf den ersten Blick in den Hintergrund. Sie sind nicht verschwunden, sondern häufig lediglich auf eine andere Vertriebsstufe verlagert oder verteilt. Dieses Verlagern oder Verteilen kann ein Geschäftsmodell innovativ erscheinen lassen, aber auch qualitätsbezogene Aspekte ausdrücken, die sich auf die Nutzerentscheidung auswirken. So kann es eine Innovation darstellen, dass Nutzer einer bestimmten Gruppe und einem abstrahierbaren gemeinsamen Interesse mit einer anderen Nutzergruppe und deren Interessen vermittelt werden. Dies wird sich wettbewerblich nur dann auswirken, wenn die jeweiligen Nutzer das Angebot wertschätzen und deshalb annehmen.218 Dies erfolgt nicht allein aufgrund der Neuheit, sondern schließlich auch aufgrund von qualitativen Interessen.
Das Bundeskartellamt hatte bereits in seinem Arbeitspapier aus dem Jahr 2015 die mit der digitalen Revolution einhergehenden Innovationen hervorgehoben.219 Ebenso sah es bereits mögliche Herausforderungen in Bezug auf den Zweck des Kartellrechts, Märkte offen zu halten.220 Dies müsse nicht nur durch die Ermöglichung von Marktzutritten durch Offenhaltung, sondern auch Ermöglichung von Innovationen erfolgen.221 Bei digitalen Plattformen können Innovationen die bereits bestehenden Netzwerkeffekte verstärken oder gar neue auftreten lassen, weshalb Dewenter/Rösch an dieser Stelle von einem Markterweiterungseffekt sprechen.222 Demgegenüber stellt die Behörde in dem Arbeitspapier bereits hervor, dass aufgrund der in digitalen Märkten vorherrschenden besonderen Dynamik Marktstellungen von Unternehmen schnell angreifbar seien.223
Etwa ein Jahr zuvor sprach sich der US-amerikanische Manager Peter Thiel in einem Artikel im Wall Street Journal für die Notwendigkeit einer höheren Akzeptanz gegenüber Monopolen in einer zunehmend dynamischen Welt mit der Begründung aus, „kreative Monopole“ würden anders als „alte Monopole“ neuere und bessere Angebote schaffen und damit unmittelbar der Innovation dienen.224 Gerade aber diese Anstrengungen müssten entsprechend entlohnt werden. Dies lässt sich zum einen allgemein als Einwand gegen eine vorschnelle Regulierung von digitalen Plattformen verstehen.225 Zum anderen ließe sich hieraus ableiten, dass gerade bei digitalen Plattformen das Streben nach einer Monopolstellung lediglich Ausdruck funktionierenden Wettbewerbs um den Markt, nicht lediglich auf dem Markt, ist.226 Es kann damit zunächst als Erfolg im Innovationswettbewerb angesehen werden, wenn ein Unternehmen sich den gesamten Markt nimmt, der Verlierer dagegen klein bleibt und verdrängt wird.227 Allerdings würde dies in wettbewerbspolitischer Hinsicht voraussetzen, dass sich das gewinnende Unternehmen an dieser Stelle auf Innovationsinteressen berufen kann, die gegenüber anderen wettbewerbsrechtlich geschützten Interessen zurückstehen. Sofern teilweise eine „The-winner-takes-it-all-Situation“ beschrieben wird,228 lassen sich dem zwei Einwände entgegenhalten. Erstens ließ sich ein derartiger Zustand, dass also ein Unternehmen „den ganzen Markt“ gewonnen hat, bislang nicht dauerhaft feststellen. So wurden verschiedene digitale Plattformen der Anfangszeit des Internet, wie zum Beispiel Altavista, Yahoo!, MySpace und in Deutschland trotz anfänglich großer Erfolge auch StudiVZ von nachfolgenden Unternehmen abgelöst.229 Insofern könnte der zwischenzeitlich gewonnene „Wettbewerb um den Markt“ wiederum schnell durch weiteren Wettbewerb angreifbar sein.230 Zweitens ist hier schon auf die marktbezogene Untersuchung hinzuweisen, ob die gegenwärtig besonders wirtschaftlich präsenten Unternehmen Google, Amazon, Facebook und Apple jeweils „einen Markt“ für sich gewonnen haben. Beide Aussagen