Der Deutsche Städtetag hat den sehr weiten Begriff der „Wohnungsnotfälle“ in die Diskussion eingebracht.9 Er soll folgende Personengruppen umfassen:
– Nichtsesshafte (Wohnungslose).
– Amtlich registrierte Obdachlose, die aufgrund ordnungsrechtlicher Verfügung, Einweisung oder sonstiger Maßnahmen der zuständigen Behörde in kommunalen Obdachlosenunterkünften, in Einrichtungen freier Träger oder gewerblichen Unterkünften (z. B. Hotels oder Pensionen) untergebracht sind, die also ein – wenn auch behelfsmäßiges – Obdach haben.
– Wohnungslose Personen, die in Heimen, Anstalten, stationären Einrichtungen, Frauenhäusern, bei Freunden oder Verwandten leben und dringend eine Wohnung suchen.
– Aussiedler, die in der ersten Zeit nach der Einreise in behelfsmäßigen Unterkünften untergebracht sind.
– Haushalte, denen aufgrund einer Räumungsklage der Wohnungsverlust droht.
– Personen, die in schwierigen oder unakzeptablen Wohnverhältnissen leben, etwa in baulich unzumutbaren, gesundheitsgefährdenden, schlecht ausgestatteten oder überbelegten Wohnungen oder in konfliktbelasteten Familien- oder Partnerschaftsbeziehungen.
Die Palette der Beispiele weitet den Blick für die vielen Formen der Wohnungsnot in unserer Gesellschaft. Sie bietet aber keine Grundlage für die Beantwortung etwa der Frage, ob eine bestimmte Gemeinde zum Tätigwerden verpflichtet ist oder nicht. Die Unschärfe des Begriffes erlaubt weder eine statistische Abgrenzung, noch eine exakte Bezifferung der von ihm erfassten Fälle.10 Deshalb wird auf diesen Begriff im Folgenden nicht mehr näher eingegangen.
Die Frage, wie viele Personen von Obdachlosigkeit betroffen sind, ist schwer zu beantworten. Eine bundesweite Statistik gab es jahrzehntelang nicht.11 Vorstöße, eine bundesweite „Statistik zur Erfassung der Obdach- und Wohnungslosigkeit“ einzuführen, führten erst 2020 zum Erfolg.12 Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. veröffentlicht13 regelmäßig eine „Jahresschätzung“, bei der es sich aber – wie die Bezeichnung schon sagt – nur um eine eher grobe Schätzung handelt. Ihr liegt zudem ein sehr weiter Begriff der „Wohnungslosigkeit“ zugrunde, der deutlich über den Begriff „Obdachlosigkeit“ hinausgeht. Andererseits erfasst sie wegen der methodischen Probleme gerade die Personen nicht, die „auf der Straße“ leben.14 Dennoch greifen mangels besserer Quellen sowohl amtliche Veröffentlichungen15 wie auch eine Antwort auf eine parlamentarische Anfrage16 auf diese Schätzungen zurück.
Eine bayerische Erhebung17 behauptet, zum Stichtag 17.11.2003 hätten in Bayern 4.303 Alleinstehende gelebt, die nicht über eine eigene Wohnung verfügen, davon 49 % in der Landeshauptstadt München, 25 % im Städtedreieck Nürnberg/Fürth/Erlangen und nur 17 % in den 71 bayerischen Landkreisen. Gerade diese scheinbar exakte Erhebung warf mehr Fragen auf, als sie Antworten gab. So erfasste sie keine Obdachlosen, die zum Erhebungszeitraum in gemeindeeigenen Unterkünften untergebracht waren. Diese und andere methodische Schwächen vermeidet der „Datenreport: Soziale Lage in Bayern 2014.“ Er enthält umfassende Daten, die unter anderem nach Region, Geschlecht und Alter differenziert sind.18
Wie schon vor Jahrzehnten festgestellt,19 spricht vieles dafür, dass im großstädtischen Bereich trotz aller Bemühungen die Zahl der Obdachlosen kaum jemals unter 0,5 % der Bevölkerung sinken wird. Dabei bleibt aber auch das „flache Land“ keineswegs völlig von dem Phänomen verschont.
1 Zur Geschichte dieser und anderer Begriffe siehe Ayaß, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 1/2013, S. 90. Speziell zum Begriff „Berber“ ebenda S. 98; diese laut Ayaß „selbstbewusste Eigenbezeichnung“ von Menschen, die auf der Straße leben, entstand in den 1970er Jahren. Leider finden sich selbst in amtlichen Publikationen ausgesprochen unzuverlässige Aussagen zur Geschichte von Begriffen. So behauptet die nordrhein-westfälische „Handreichung Wohnungsnotfallhilfen im SGB II“, S. 9, der Begriff „nichtsesshaft“ gehöre der nationalsozialistischen Verwaltungssprache an. In Wirklichkeit reicht die Geschichte des Begriffs bis in das 19. Jahrhundert zurück, siehe Kiebel, „nichtsesshaft“ – ein Begriff wird in Kürze 100 Jahre alt, in: Gefährdetenhilfe 1993, S. 24-26. Im Nationalsozialismus weitaus bedeutsamer war der Begriff „Asozialer“, siehe Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Wer damit belegt wurde, riskierte die Unterbringung in einem Arbeitszwangslager, im schlimmsten Fall sogar in einem Konzentrationslager. — 2 So Ziff. 2.3/Erster Spiegelstrich der bayerischen Empfehlungen a. F. vom 15.2.1982, MABl. Nr. 7/1982, S. 148. Die jetzt geltende Fassung der Empfehlungen (siehe Anhang 1) erörtert die Frage nicht mehr ausdrücklich. Huttner, Unterbringung, S. 33, verwendet den Begriff „Obdachlose“ auch für diesen Personenkreis und spricht insoweit von „freiwilliger Obdachlosigkeit“; ebenso Ruder, NVwZ 2001, 1223, 1224 sowie Ruder/Bätge, Obdachlosigkeit, S. 9 und S.16. Abgesehen davon, dass der Begriff der Freiwilligkeit in diesem Zusammenhang sehr fragwürdig erscheint, stellen Obdachlose im Sinne der Definition bei 2.4 einerseits und Nichtsesshafte andererseits die Verwaltung und auch die Sozialarbeit vor grundlegend andere Anforderungen. Aus diesen Gründen sollten beide Begriffe klar unterschieden werden. — 3 Siehe insoweit auch §§ 67, 68 SGB XII (früher § 72 BSHG), wonach die Sozialämter besondere Hilfen zu gewähren haben, die auf die spezifischen Verhältnisse solcher Personen zugeschnitten sind. Details siehe Ehmann, in: Fasselt/Schellhorn, Handbuch Sozialrechtsberatung, § 12 RN 29–40. — 4 So zutreffend BayVGH, Beschl. v. 4.4.2017 – 4 CE 17.615, RN 8. — 5 Die sächsischen Empfehlungen (siehe Anhang 2) verwenden den Begriff „obdachlos“ nicht, sondern benutzen an seiner Stelle den Begriff „wohnungslos“ und definieren ihn in II.1 und II.2 so, wie die Rechtsprechung üblicherweise den Begriff „obdachlos“ definiert. Das ändert inhaltlich nichts. — 6 Abgedruckt und kommentiert in Anhang 1. Vielfach meint die Literatur auch, den Begriff ohne Definition voraussetzen zu dürfen, vgl. als Beispiel Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353. Huttner, Unterbringung S. 26 verwendet der Sache nach dieselben Kriterien wie die bayerischen Empfehlungen. Die sächsischen Empfehlungen (siehe Anhang 2) verwenden zwar durchgängig „wohnungslos“ statt „obdachlos“, weichen bei ihrer Definition in II.1 und II.2 inhaltlich aber ebenfalls nicht ab. — 7 Laut Huttner, Unterbringung, S. 31/32 werde in der Praxis vielfach angenommen,