Ich betrat den Raum und stöberte neugierig durch die beeindruckende Flut an ordentlich aufgehängten und sortierten Kleidungsstücken. Sie alle waren von feinster Qualität. Ich erkannte auch ein paar Designerlabel, die ich schon einmal bei meiner Mutter oder in Zeitschriften gesehen hatte. Und alle waren sie in Größe 38. Ich erstarrte mitten in der Bewegung.
Sie alle waren in Größe 38.
Ich wirbelte herum und betrachtete die hohen Regale mit den Schuhen genauer. Größe 40. Alle. Meine Größe, genau wie die Klamotten. Und da war sie wieder, die Angst. Wieso entführte man jemanden und steckte ihn in ein Zimmer voller auf ihn abgestimmter Klamotten? Vielleicht, weil man nicht vorhatte, ihn wieder gehen zu lassen?
Daran darfst du nicht denken, Lilly. Nicht, solange du nicht alle Fakten kennst.
Erst dann würde ich mich den Horrorszenarien in meinem Kopf hingeben. Ich schloss die Tür hinter mir und ging zur dritten und letzten Tür. Das musste dann wohl die Eingangstür sein. Noch zu ängstlich, um sie zu öffnen, drehte ich den Schlüssel im Schloss herum und stakste zurück ins Bad. Ich blieb dabei, eine Dusche würde helfen. Ich verriegelte auch die Badezimmertür hinter mir und widmete mich dann den zahlreichen, teuer aussehenden Flaschen am Badewannenrand. Eine besonders hübsche Flasche erweckte meine Aufmerksamkeit und gespannt hob ich den Deckel der Glasflasche an. Ein himmlischer Blumenduft erfüllte das Bad in Sekundenschnelle. Er hatte nichts Künstliches oder Artifizielles an sich, wie es bei Duschgelen oder Shampoos oft der Fall war. Nein, es war, als würde man sich in einem Meer aus Blumen befinden. An einer Wiese, direkt an einem Wasserfall im Schein strahlender Sonnen. Okay, wow. Kopfschüttelnd schloss ich die Flasche und stellte sie zurück. Was war denn das gewesen? Eine Blumenwiese und ein Wasserfall?
»Jetzt verlierst du wirklich den Verstand, Lilly.« Dass ich die Worte laut aussprach, machte das Ganze nicht besser. Wahrscheinlich die Nachwirkungen meiner Betäubung und damit Entführung, rief ich mir ins Gedächtnis. Immerhin war ich verschleppt worden, da hatte ich eindeutig Besseres zu tun, als an Shampoos zu schnüffeln. Aber ich wollte auch gut riechen. Nach kurzem Zögern schnappte ich mir die Flasche erneut und wandte mich der Duschkabine zu. Die Dusche war, wie alles in dieser Suite, gigantisch. Was ich jedoch nirgends entdecken konnte, waren Duschköpfe oder Brausen oder irgendeine Art von … Wasserhahn. Suchend schaute ich in alle Ecken, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte. Aha! Es gab keinen Duschkopf, weil das Wasser aus der Decke kam. Zumindest ließen das die vielen kleinen, im Quadrat angeordneten Löcher über mir vermuten. Ich stellte meine Beute auf dem Boden der Duschkabine ab und schlüpfte rasch aus meinen Klamotten. Sobald ich die Kabine geschlossen hatte und nach oben sah, begann ein stetiger Fluss von perfekt temperierten Wassertropfen auf mich herabzuprasseln. Mit jeder Sekunde wurde der Wasserdruck stärker, bis ich das Gefühl hatte, in einen kräftigen Sommerregen geraten zu sein.
Ich seufzte zufrieden, schnappte mir das phänomenal duftende Duschgel und begann, mich damit von Kopf bis Fuß einzureiben, bis ich nur noch aus Schaum bestand. Herrlich! Der Duft war betörend und meine angespannten Muskeln entkrampften sich augenblicklich. Daran könnte ich mich definitiv gewöhnen. Nur an Shampoo hätte ich vielleicht noch denken sollen, dachte ich, als mein Blick sehnsüchtig in Richtung der Flaschen am Wannenrand glitt. Wahrscheinlich war das Zeug in meiner Hand jedoch teuer und exklusiv genug, um es auch als Shampoo zweckentfremden zu können. Kurzerhand gönnte ich mir einen großzügigen Kleks und verteilte ihn in meinem nassen Haar. Der Duft von Blumen erfüllte erneut die Duschkabine. Wie lange ich hier wohl ausharren konnte, ohne mich aufzulösen? Nach einigen weiteren Minuten musste ich mir eingestehen, dass ich sauber war. Klitschnass trat ich aus der Dusche und griff nach einem der flauschigen Bademäntel links von mir. Das Wasser stoppte in dem Moment, als ich die Kabine verließ. Definitiv etwas, woran ich mich gewöhnen könnte. Ein Handtuch um meine nassen Haare gewickelt, trat ich vor den hübsch verzierten Spiegel.
»Ach du meine Güte!«
Was auch immer in dem Fläschchen war, ich brauchte es für zu Hause. Verschwunden waren mein fahler Hautton und die rot umrandeten Augen. Die Frau, die mir aus dem Spiegel entgegensah, hatte rosige Wangen und große, klare Augen. Ich nahm das Handtuch vom Kopf und sah dabei zu, wie meine hellen Haare in nassen, sanften Wellen über meine Brüste fielen. So seidig waren sie noch nie gewesen. Begeistert suchte ich nach weiteren Veränderungen in meinem Erscheinungsbild, aber da war nur ich. Die gute alte Lilly. Ich ließ den Bademantel von meinen Schultern gleiten und betrachtete mich neugierig, aber nein, hier gab es keine gravierenden Veränderungen. Ich musste mich wohl mit dem frischen Teint zufriedengeben, der mich wenigstens nicht mehr ganz so leblos aussehen ließ. Die meisten Menschen bezeichneten mich als schön, was auch immer das heißen mochte. Für mich bedeutete schön nicht gleich gutherzig oder mitfühlend. Dafür hatte ich bereits zu viele äußerlich schöne Menschen getroffen, die innerlich hässlich gewesen waren.
Mein Aussehen hatte mich von jeher zu einer Außenseiterin gemacht. Ich mochte es nicht, das typische Außenseiter-Klischee, und ich hasste es, mich als Opfer zu sehen. Ich hatte meinen Weg selbst gewählt und dazu stand ich auch. Fakt war, dass ich mit mir selbst wesentlich glücklicher gewesen war als mit den Mädchen und Jungen an meiner Schule oder Uni. All das, wofür sie sich so brennend interessiert hatten, war mir stets irgendwie banal vorgekommen. Belanglos. Die Menschen um mich herum, hatten ein ganz spezielles Bild von mir gehabt. Verknüpft mit Erwartungen.
Diese Erwartungen, hatte ich jedoch nicht erfüllen können. Oder wollen. Die Mädchen in meiner Schule oder in der Uni hatten mein Aussehen mit Party machen, Jungs treffen und Machtspielchen gleich gesetzt. Mir hingegen war es unangenehm gewesen, durch mein Äußeres im Mittelpunkt zu stehen, daher hatte ich mich, die Nase in einem Buch vergraben, immer weiter zurückgezogen.
In Gedanken griff ich nach der Bürste auf der Ablage vor mir und begann damit meine Haare zu entknoten, was dank des super Duschgels relativ einfach war. Neben dem Waschbecken befanden sich weitere Fläschchen und Tiegel und ich fand etwas, das verdächtig nach Creme roch und aussah. Nachdem ich mich eingecremt hatte und nun endgültig wie eine Blumenanbeterin duftete, verließ ich das Bad und öffnete die Tür zum angrenzenden Ankleidezimmer. Wenn sie schon einen ganzen Schrank, nein, ein ganzes Zimmer, mit Klamotten in meiner Größe hatten, dann würde ich sie nicht enttäuschen. Mit einem leichten Cinderella Gefühl drehte ich mich einmal um mich selbst, ehe mein Blick an einem ultra-flauschig aussehenden grauen Kaschmirpullover hängenblieb.
Eine Sache, die meine Mom und ich gemeinsam gehabt hatten. Unsere Vorliebe für große, graue Wollpullis. Beinahe ehrfürchtig griff ich nach dem guten Stück und suchte mir eine dazu passende schwarze Hose. In einer der zwei Kommoden fand ich Unterwäsche in allen Farben und Formen und entschied mich für schlichtes Weiß. Fertig angekleidet begutachtete ich mich im Spiegel. Ich sah … elegant aus. Der Pulli musste ein kleines Vermögen gekostet haben und die Hose betonte meine Beine und meinen Hintern äußerst vorteilhaft.
»Nicht übel«, murmelte ich und sah mich nach passenden Schuhen um. Meine Augenbrauen schossen in die Höhe, als ich erkannte, wie viele Pumps fein säuberlich in dem offenen Regal vor mir standen. Etwas irritiert griff ich nach einem der schwindelerregend hohen Schuhe mit roter Sohle und begutachtete den Absatz skeptisch. Hohe Schuhe waren nicht ganz mein Ding. Schon gar nicht, wenn sie einen Monatslohn kosteten. Wer auch immer dieser Nick war, er hatte eindeutig Geld. Viel Geld. Weiter unten entdeckte ich ein paar weiße Sneakers. Perfekt. Geschmack hatten sie, das musste ich meinen Entführern lassen. Jetzt aber war es an der Zeit herauszufinden, was zur Hölle hier los war. Mit noch feuchten Haaren und ohne Make-Up durchquerte ich die Suite und schritt entschlossen Richtung Eingangstür.
Sofort begann mein Herz erneut im Stakkato zu wummern und ich atmete ein Paar Mal tief durch, um mich zu beruhigen. Es würde sich alles aufklären, ganz bestimmt. Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür dann mit einem kräftigen Ruck auf. Ich wusste nicht genau, was ich erwartet hatte, nicht jedoch, den stillen Korridor, der mich hinter der Tür erwartete. Ein kurzer Blick nach links und rechts verriet mir, dass mein Zimmer am Ende eines langen Gangs lag.
Auf geht’s, Lilly.