Es geht hier nicht um die Nutzung von U-Bahn-Zügen und Bahnsteigen. Nicht um die Bedrohung durch Gangs, das hat Irina auch schon kennengelernt, es geht um die Bedrohung für Leib und Leben, wenn Irina sich auf den Weg durch die Tunnel machen würde. Das ist wirklich gefährlich.
Elvira kennt die Gefahren, aber für Elvira ist es einfach. Sie kann einfach zu den Freunden in den „Bunker“ springen. Dennoch läuft sie oft durch die Tunnel, weil sie ihre Freunde, die Ratten dort trifft. Die haben Elvira schon oft geholfen.
Am nächsten Tag wird Irina von Elvira und Lara mit in den Bunker genommen. Irina ist völlig platt. Sie bleibt mit Elvira über Nacht und am nächsten Tag springen sie zu Oma zurück. Sie haben noch lange Gespräche mit Oma und mit Lara, und auch mit Rochen, dann entscheidet sich Irina. Sie wird in Berlin studieren. Sie wird von der Familie lernen. Irina kommt in den nächsten Wochen noch ein paar Mal. Sie geht mit Elvira zu den Kids im Bunker. Sie redet mit Oma und mit Lara, und sie sucht Rochen auf. Irina macht die Augen und die Ohren auf, und sie beginnt eine neue Welt „einzuatmen“.
An einem dieser Abende sitzt Rochen mit Elvira zusammen. Sie sitzen irgendwo in der großen Halle. Ganz oben auf dieser treppenartigen Tribüne, von der man alles überblicken kann. Sie sehen unten den Betrieb in Aysas Café. Sie sehen und hören die Videos, die ständig über die Multifunktionsleinwand abspulen und Rochen meint. „Schöne Schwester hast du da.“
Elvira nickt. Ja, das stimmt wirklich. Irina ist eine Schönheit. Sie brezelt sich nicht auf, aber sie ist elegant und natürlich zugleich. Sie hat einen Mörderbusen, das was den Männern immer so gefällt, aber Elvira kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rochen und Irina... Außerdem ist Irina in festen Händen.
Dann fügt Rochen hinzu, und er legt Elvira jetzt leicht die Hand auf den Oberschenkel, „aber mit dir kommt sie nicht mit.“
Elvira sieht auf diese Hand. Sie spürt die Wärme, die von ihr ausgeht. Nicht besitzergreifend, sondern freundschaftlich und dennoch vertraut, achtungsvoll und dennoch bestimmt. „Irina ist älter als du, aber im Verhältnis zu dir, ist Irina ein kleines Mädchen.“
Elvira legt die Hand auf Rochens Hand und nimmt sie dort weg. Sie hält sie jetzt in ihrer Hand und legt auch die andere Hand darum. „Wieso das?“
Rochen lächelt. „Ich kenne Irina nicht gut genug. Ich kann nicht einschätzen, ob sie jemals etwas Großes wird. Bei dir bin ich mir sicher. Du hast mehr Kraft in dir, als du weißt. Du wächst langsam in diese Kraft, von der du noch gar nichts weißt, aber du bist schon so darin verwoben, dass du nicht mehr aussteigen kannst.“
Irina sieht Rochen an und sie drückt unwillkürlich diese Hand an ihren Busen. Sie schüttelt verwundert den Kopf.
An diesem Abend setzt sich die Wärme von Rochens Hand in Elvira fest, und auch die Wärme von Elviras Händen setzt sich in Rochen fest.
Rochen hat schon mit vielen Mädchen geschlafen. Er ist körperlich klein, aber er ist ein Athlet. Rochen ist Kampfsportler. Nun ja, nur im Fliegengewicht, aber Rochen ist wirklich gut. Er ist intelligent und wachsam, und Rochen hat ein sicheres Gespür.
Wenige Wochen später schlafen Rochen und Elvira zum ersten mal miteinander. Rochen ist fast zehn Jahre älter als Elvira. Eigentlich ist das nicht statthaft, was er da macht, aber irgendwie hat es Bumm gemacht. Sie wissen selbst nicht wieso. Nie zuvor hatten sie an so etwas gedacht. Sie kennen sich nun schon eine ganze Weile. Sie arbeiten indirekt zusammen, wenn es um die Verfolgung der Dealer geht, aber ihr Leben ist ganz unterschiedlich. Schließlich ist Elvira noch sehr jung und in vielen Dingen naiv. Rochen wird bereits jetzt als der zukünftige Erbe von Roy gehandelt. Er ist bereits jetzt eine Art graue Eminenz. Rochen ist auch ein gefährlicher Mann. Das hatten schon einige gelernt, die sich mit ihm angelegt hatten.
Rochen kann Gunst gewähren und er kann sie auch entziehen. Wenn das geschieht, dann hat das Opfer keine Chance. Rochen zieht alle Register und alle Fäden. Er kann gnadenlos sein.
Dennoch hat er sich in dieses Mädchen vernarrt. Elvira strahlt eine Kraft aus, die ihn beeindruckt. Sie weiß es nur noch nicht.
Am Abend nach dieser Nacht sieht Lara ihre Nichte Elvira lange an und Elvira spürt, dass Lara das von Rochen und ihr weiß. Sie verteidigt sich nicht, sie sieht Lara nur offen und ehrlich an. Nicht aufmüpfig, nicht unverschämt, sie sieht Lara nur an, und sie lächelt dabei.
Lara nickt, dann sagt sie, „wenn Rochen dir das Herz bricht, dann werde ich ihn zur Verantwortung ziehen. Du stehst unter meinem Schutz. Du sollst das wissen.“
Elvira lächelt immer noch, dann greift sie nach Laras Hand und sagt, „ich weiß, was da geschehen ist, aber ich weiß nicht, wie es geschehen konnte. Ich kann dir das nicht erklären, und ich will es auch nicht. Ich bin in Rochen hineingekrochen und ich habe mich dort umgesehen. Ich habe gesehen, dass Rochen schon mit vielen Frauen zusammen war, auch mit viel älteren. Rochen ist ein richtiger Mann. Er ist zärtlich und er ist aufmerksam, aber Rochen dienert nicht. Ich habe nicht ganz begriffen, warum er sich für mich entschieden hat, aber ich habe gespürt, dass er sich für mich entschieden hat. Mehr musst du jetzt nicht wissen. Es ist mein Leben.“
Lara lacht leise. „Das ist die Kraft, die ich in dir spüre. Ich wünsche dir viel Glück.“
Seit dieser Zeit ist Elvira mit Rochen zusammen. Sie lebt weiter ihr Leben. Sie kümmert sich um ihre Mutter und um ihre Geschwister. Sie kümmert sich um die Kids im Untergrund und um die Freunde im Zentrum, aber nun ist etwas in Elviras Leben getreten, das ihr neue Kraft und neue Stärke gibt.
Rochen hat im Verwaltungszentrum ein kleines Appartement, in das er sich zurückziehen kann, wenn es viel Arbeit und dringende Termine gibt, und er hat in der Stadt noch eine Wohnung. Da gibt es so einen Innenhof und mehrere alte Gebäude, die ihn umschließen. Elvira hat dort viele bekannte Gesichter gesehen, seit sie Rochen dort ab und zu trifft. Rochen hat dazu genickt. „Die ganze Häuserzeile gehört der Stiftung. Hier wohnen nur Freunde. Die Stiftung hat noch mehr solcher Gebäude, das soll dir aber deine Großmutter erzählen.“
2.8.
Im nun folgenden Winter geschieht noch etwas. Ana Théla ruft nach Hilfe. „Hilfe“ schreit sie und die Geschwister machen sich sofort auf den Weg nach Mexiko. Nicht nur Elvira und ihre Generation. Alle, sogar Opa Leon und Chénoa.
In Mexiko hatte es wochenlang geregnet. Nun war ein Staudamm gebrochen und bedroht gut zwanzig Dörfer und mehrere Städte am Unterlauf des Flusses. Sie evakuieren in aller Eile Dörfer, bringen Rinder, Hunde, Ziegen und Schafe auf die Bergkämme und sie bauen nun mit der Kraft ihrer Energie einen gewaltigen unsichtbaren Staudamm, der die herantosenden Fluten aufhält. Dann öffnet Tante Chénoa den Staudamm links und rechts ein wenig, und sie lässt das Wasser ablaufen. Es dauert sechs lange Stunden und sie sind danach alle völlig groggy. Nur Chénoa und einige der Großen, so, wie Opa Leon und Clara haben ihre Kraft noch und sie springen mit der ganzen Kindergruppe zu Onkel Nakoma und pflegen sie.
Es ist ein Ereignis, das beängstigt und zugleich Mut macht. Die Familie erlebt zum ersten Mal den ganz großen Zusammenhalt. Sie erlebt, was die Familie erreichen kann. Naturgewalten sind gewaltige Ereignisse. Tausende Tonnen Wasser, Schlamm und Steine, die durch ein Tal brausen, die sind eine Gewalt, die scheinbar durch nichts aufgehalten werden kann.
Sie haben diese Flutwelle aufgehalten. Es ist ein befriedigendes und tief greifendes Erlebnis.
In der nächsten Nacht liegt Elvira in den Armen von Rochen. Sie schläft mit Rochen, und sie schreit alles aus sich heraus. Sie legt all diese Erlebnisse in dieses eine Mal der Liebe, und sie muss das danach noch einmal