Dann kehren sie alle zurück. Die Wände des Schulungszentrums schließen sich wieder. Elvira ist wieder sie selbst. „Whow.“
Sie hat in diesen Minuten erlebt, wie sie sich in ihre Atome auflöste. Sie hat erlebt, wie sie in die Gehirne dieser Menschen hineinfloss, die sie überhaupt nicht kennt. Sie hat erlebt, wie Chénoa Entscheidungen beeinflusst hat. Das ist ja ganz unglaublich.
Später sieht sie die beiden Ramons und Clarissa Thébo an. „Und ihr könnt das auch?“ Sie erntet nur ein bedauerndes Kopfschütteln. „Wir üben, aber im Vergleich zu Chénoa sind wir wie Babys. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.“ „Das muss auch so sein“, meint Clarissa Thébo. Solche Kräfte dürfen nicht viele Menschen besitzen. Das ist eine Macht, mit der wir viel Schaden anrichten können. Wir müssen erst lernen, ganz in Demut aufzugehen, bevor wir erlaubt bekommen, über solche Kräfte zu verfügen.“
Da ist es wieder, dieses Wort der Demut. Elvira geht innerlich in die Knie vor diesem Wort. Demut. Das bedeutet, sich ganz bewusst klein zu machen. Es bedeutet Verzicht und Achtung. Es bedeutete Verantwortung und Pflichtbewusstsein um die Macht der Mächte.
Jetzt versteht sie endlich, was die Ratten ihr damals im Tunnel gesagt hatten. Es ist eine Kraft, die nur für das Überleben der Gattung Mensch eingesetzt werden darf. Jetzt versteht sie auch den Inhalt der Botschaften besser, obwohl sie über diese politischen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge so gut wie nichts weiß.
Elvira wird noch viel mehr lernen müssen.
Als sie wieder in Berlin ist, sucht sie Tante Lara auf. Sie erzählt davon und fragt. „Was ist? Können wir nicht all die Drogenhändler mit solchen Nachrichten beschicken? Hört das dann endlich auf?“
Lara seufzt. „Dazu musst du wissen, wie das Drogengeschäft aufgebaut ist. Die Menschen, die in diesen Organisationen arbeiten, sind über die ganze Welt verteilt. Wir müssten sie erst mal kennen, um sie zu beeinflussen.“
„Ja, und bei solchen Konzerten? Wie ist das dort?“
Lara nickt. Dort sind die Konsumenten. Die können wir beeinflussen. Naja. Chénoa kann das. Meine Kraft ist noch gering. Ich kann einen kleinen Baustein dazu liefern, aber du überschätzt mich. Im Vergleich zu Chénoa bin ich wie ein Baby.“
Elvira sieht Lara an. Dasselbe hatten ihr die beiden Ramons und Clarissa Thébo gesagt. Elvira seufzt. „Wir müssen viel üben.“
„Ja“, meint Lara. „Bis dahin werden wir die Drogenringe aber weiter melken. Wir können den Strom der Drogen nicht unterbinden, aber wir können den Drogenbaronen Schaden zufügen. Schließlich hat dieses Geld seit vielen Jahren viel Gutes getan. Der alte Mann, den du gesehen hast, der tut das schon seit vierzig Jahren. Ohne diese Gelder wäre wohl auch das Musikzentrum nie gebaut worden.“
Elvira staunt schon wieder. Das sind ja Verflechtungen... Whow.
2.6.
Elvira ist jetzt Fünfzehn und sie hat immer noch nie mit einem Jungen geschlafen. Sie sieht diese Ströme bei anderen, aber sie ist eingebunden in die Aufgaben der Familie. Sie will auch nicht nur deshalb Sex haben, um das einmal gemacht zu haben.
Jeder hat seine eigene Geschichte. Andere Mitglieder der Familie haben das ganz anders erlebt, aber Elvira, die glaubt daran, dass ihr einmal das große Glück der Liebe begegnen wird.
Sie ist inzwischen richtig aufgeblüht. Sie spricht auch mit Mama darüber, aber Mama nimt sie nur in den Arm. „In meiner Familie war das auch nicht üblich“, sagt sie. „Als ich dann deinen Vater kennenlernte, da hat es bei mir gefunkt. Ich wusste ja, dass Paco auch mit vielen andern Mädchen zusammen ist, aber das war mir in diesem Moment egal. Dein Vater ist eine Persönlichkeit und er war im Bett einfach so...“, sie seufzt genüsslich.
„Lass mich nur nicht daran denken, sonst werde ich schwach.“ Dein jetziger Vater ist ein wunderbarer Mann, und wir sind glücklich miteinander, aber in diesen Sachen war dein Vater unübertroffen. Nicht jeder Mann ist so. Du kannst mit vielen Jungs zusammen sein und du wirst Unterschiede zwischen ihnen merken. Dein erster Mann im Leben wird vielleicht immer etwas Besonderes für dich sein. Aber das hängt davon ab, ob das ein wirklich guter Mann ist. Liebe erlebt man am Körper und gleichzeitig im Kopf. “
Elvira spricht auch mit Lara über dieses Thema und Lara seufzt. „Du weist, dass ich keinen festen Freund habe. Es gibt Menschen, für die ist die Liebe wie eine Urgewalt. Ich habe das noch nie erfahren. Papa schon. Oma Katharina hat das erfahren und deine Mutter, die hat das offenbar auch erfahren. Mach dir keinen Kopf. Niemand zwingt dich zu irgendetwas, und wenn doch, dann weist du sicher, wie du dich wehren kannst.“ Elvira nickt. Das ist einfach. Sie braucht nur durch den Raum zu gehen, oder ihr Gesumm anzustimmen.
Elvira sieht, wie viele Freunde in diesem Jahr zum ersten mal... oder auch zum Zweiten oder zum Dritten... sie sieht das, aber sie wartet.
Wenige Wochen später spürt sie, dass ihr Cousin Dimmy sich Hals über Kopf verliebt hat. Die Wellen der Erregung laufen bis zu ihr. Es sind gewaltige Wellen. Elvira lächelt. Vielleicht wird ihr das auch einmal wiederfahren.
2.7.
Irgendwann in diesem Jahr kommt Irina nach Berlin. Sie steht vor dem Abitur. Sie hat eigentlich nach Freiburg gehen wollen, um dort zu studieren, aber jetzt ist sie nach Berlin gekommen, um mit Oma und mit Lara zu reden.
Oma Katharina und Lara haben Elvira wie selbstverständlich in dieses Gespräch eingebunden, aber Elvira hält sich im Hintergrund. Sie hört nur zu.
Irina ist ein wirklich nettes Mädchen. Sie hat sie in den letzten zwei Jahren oft getroffen. Irina ist weitsichtig und klug. Sie hat viele Interessen und sie war dort in Wittenberge richtig aufgeblüht, bei Opa Leon und in ihrer Schule. Sie hat sich um ihre kleine Welt gekümmert. Um ihre Schule, um ihren Paolo, um die Vorgänge in Spanien. Sie hat sich regelmäßig mit den Geschwistern getroffen, und sie hat ihre Kräfte geübt. Sie interessiert sich auch für all diese Umweltprobleme, die Elvira in Berlin einfach nicht so mitbekommt. Gewiss. Es gibt nur noch wenige Autos, die mit Benzin fahren. Inzwischen sind fast alle Motoren auf Solarantrieb, Gas und diese Wasserstoffantriebe umgestellt, die heute das Benzin ersetzt haben. Aber von den wirklich großen Schäden an der Umwelt weiß Elvira recht wenig. Sie hat mit den andern Kids ihre Kräfte trainiert. Sie haben Wellen aufgehalten oder sie haben versucht, Regen zu stoppen, aber das ist für sie stets wie ein Spiel gewesen.
Ihre Welt ist hier, in Berlin. Sie trainiert an Kräften, deren Sinn sie noch gar nicht richtig einschätzen kann, und sie ist hier in Berlin richtig glücklich. Das ist ihre Familie. Ja. Sie nimmt inzwischen regelmäßig an den Beobachtungen dieser geheimen Gruppe teil. Sie freut sich über jeden Erfolg der Gruppe.
Oma und Katharina arbeiten sie langsam auch in das weit verzweigte Netz der Familie ein. Sie lernt langsam all die Freunde kennen, die wichtig sind. Nicht nur die Musiker und die Filmregisseure. Die kennt sie längst. Nun fängt sie an Kirchenmänner, Politiker und Vertreter von öffentlichen Ämtern kennenzulernen. Sie lernt langsam, um nicht überfordert zu werden, aber Stück für Stück. Solche Dinge brauchen viel Zeit.
Elvira weiß nicht einmal, dass Oma Katharina sie schon als die zukünftige Leiterin des Musikzentrums sieht. Naja. Nicht mit Bestimmtheit, aber Oma Katharina hat ein feines Gespür. Sie hat sich in ihrem Leben selten getäuscht. Sie leitet dieses Zentrum nicht, weil sie irgendein Parteibuch besitzt, sondern weil sie die Fähigkeit und das richtige Gespür hat. Jetzt kommt also Irina und Irina braucht Hilfe.
Irina weiß nichts von den Kids im Untergrund.