Sie fährt fort. „Deine Tante Cindy, die in der holsteinischen Schweiz lebt, du weist, wen ich meine? Die schreibt ja mit ihrem Mann Texte und Songs für viele verschiedene Musiker. Sie sind wirklich gut im Geschäft. Von den Beiden kann man nur lernen. Ich weiss auch nicht, wie die beiden das immer schaffen, mit ihren Songs so die Seele zu treffen. Aber natürlich gibt es viele Stücke, die auch voll daneben hauen. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob die Beiden deinem Freund helfen könnten.“
Sie überlegt noch eine Weile, dann fügt Katharina hinzu. „Versuche nicht, dich auf die Lösung des Problems zu fixieren. Du wirst dabei nur verkrampfen. Lebe deinen Tag. Sei Teil deiner Freunde, beobachte und lache. Vielleicht hast du morgen plötzlich die zündende Idee. Vielleicht in einem Monat oder in einem Jahr. Vielleicht auch nie. Lass dich nicht entmutigen. Manche Dinge müssen wir so nehmen, wie sie sind. Wir können nicht alles steuern und beeinflussen.“
Elvira seufzt. Dann erzählt Oma Katharina, wie Chénoa und Opa Leon einmal einer der Gruppen geholfen hatten, vor vielen Jahren. Damals war die Frontfrau der Gruppe ums Leben gekommen. Die Gruppe war völlig verzweifelt. Chénoa hatte sie eingesummt und ihnen einen neuen Rhythmus und neuen Lebensmut gegeben. Nicht ihren Rhythmus, sondern Chénoa hatte es der Gruppe ermöglicht, den in der Gruppe bereits existenten Rhythmus neu zu definieren. Das hatte damals der Gruppe zu wahrer Größe verholfen. Aber das wäre nie passiert, wenn die Zeitströmung nicht genau zu diesem Zeitpunkt nach diesem neuen „Rhythmus“ verlangt hätte.
Elvira überlegt lange. Sie wacht in den Nächten auf, wälzt sich hin und her und sitzt schließlich aufrecht im Bett. Sie geht zu ihren Freunden in den Bunker. Sie geht zu Konzerten. Sie begleitet Lara zu Produktionen, und plötzlich hat sie einen Einfall.
Es gibt da so ein Mädchen. Sie ist auch erst vierzehn. Elvira kennt sie aus Aysas Café in der großen Halle im Zentrum. Emmi ist italienisch-spanischer Herkunft. Sie heißt eigentlich Emilia und sie hat eine wunderbar weiche Stimme. Weich und doch kräftig. Emilia hat schon einen ziemlich großen Busen, die Jungs gucken ihr hinterher, und sie hat so etwas von einer Rockröhre. Da ist so ein Unterton, der sich in dein Gehirn sägt. Nicht wie eine Kreissäge, mit hohen Nebentönen, sondern wollüstig kratzig. Etwas, was nur wenige Sängerinnen haben, wie etwa Nina Turner. Elvira kennt diese uralten CD’s. Damals, vor vielen Jahrzehnten, da war diese Tina Turner mit dieser Stimme ein Weltstar geworden.
Emmi übt bisher immer Zuhause. Sie imitiert irgendwelche anderen Sängerinnen, und Elvira hatte sie kennengelernt, als sie einmal selbstvergessen auf den Stufen im Zentrum saß, mit den Kopfhören auf. Emmi hatte gesummt. Ab und zu hatte sie die Stimme gehoben und ein paar Takte gesungen. Elvira hatte sich ein paar Bänke weiter hingesetzt und hatte Emmi beobachtet. Sie war in keiner der Gruppen, die im Zentrum probten oder spielten, das wusste Elvira.
Ein paar Tage später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen und Elvira hatte Emmi angesprochen. Ein paar Wochen später wurde Elvira von Emmi mit zu sich Nachhause genommen und Emmi sang ihr vor. Emmi war noch unausgebildet, aber sie war gut. Irgendwann vor Weihnachten sah Elvira dann Emmi wieder und plötzlich hatte sie einen Einfall. Sie rief bei Oma an, sie fragte, wann Louis das nächste Mal probt, und sie nimmt zwei Tage später Emmi mit zu Louis in den Proberaum.
Emmi hört eine Weile zu, dann meint Elvira. „Kannst du versuchen, das einmal zu begleiten? Erst mal hier hinten, dann später vielleicht mit dem Mikro?
Emmi hat längst angefangen, das in ihrem Kopf zu tun und sie fängt jetzt an zu summen.
Elvira geht kurz entschlossen hinter die Bühne und holt sich eines der Textblätter. Sie gibt das Emmi und Emmi beginnt. Dann wird Louis aufmerksam. „Was’n das? Kannste nich’ mal hochkomm’n. Haste’ schon mal mit’m Mikro gesung’n?“ An diesem Tag fängt Emmi an, mit Louis zu üben.
Noch vor Weihnachten schreibt die Gruppe einige Texte um. Sie schreiben einen eigenen Gesangspart für Emmi und sie studieren das ein.
An Weihnachten tritt die Gruppe zweimal im Zentrum auf. Emmi darf bei drei Stücken die erste Stimme singen. In den andern bleibt sie im Hintergrund, und versucht Louis zu begleiten.
Elvira steht im Publikum. Sie staunt. Das ist noch unfertig, aber das ist der Sound, der die Menschen einfängt. Sie sieht die Reaktion des Publikums. Sie spürt die Vibrationen, und sie weiß, das ist der Beginn einer neuen Ära.
Kapitel 2. Berlin. Die Jahre 2054 und 2055
2.1
Die Gruppe von Louis lässt sich Zeit. Sie überstürzt nichts. Sie arbeitet an der Musik. Sie arbeitet an den Texten. Sie arbeiteten an Emmis Stimme, und sie arbeiteten an diesem Duett von Louis Gesang und Emmi. Sie entwickeln einen völlig neuen Stil.
Gegen Ende des Jahres 2054 meint Lara, die ein paar mal zugehört hat, „ich glaube, ihr solltet jetzt ins Studio gehen. Es wird Zeit für euer erstes Video.“ Es gibt zunächst eine Single. Lara produziert auf eigene Kosten ein Video. Sie dreht das selbst und überlässt das diesmal nicht ihren Kameraleuten. Lara ist in diesen Dingen wirklich genial. Das Video kommt kurz vor Weihnachten auf den Markt. Lara sorgt dafür, dass der Berliner Rundfunk und das Fernsehen das Video bekommen. Sie sorgt dafür, dass das Video bei MTV ausgestrahlt wird und sie sorgt für einige Interviews.
Die deutschsprachige Musik schlägt ein, wie eine Bombe. In den folgenden Wochen hat die Gruppe richtig zu tun, und in den Tagen um Fasching 2055 füllen sie bereits die Konzertsäle in Köln, München, Stuttgart und Dortmund. Emmi ist 15, die anderen Mitglieder der Band sind zu diesem Zeitpunkt erst 16. Das ist ein Alter, wo du die Kids am einfachsten einfängst.
Von den ersten Gagen kann die Gruppe ihre Schulden bei Lara zurückbezahlen. Naja. Lara ist großzügig gewesen. Sie hat einen Freundschaftspreis gemacht, aber das gehört zu ihren Maximen, dass es professionelle Hilfe nicht zum Nulltarif gibt. Die Kids lernen das im Zentrum, das ein Startbrett nicht umsonst ist. Schließlich profitieren sie ganz gewaltig von Laras Hilfe. Nur Elvira, die hatte abgewunken. Das ist ihr Zentrum. Sie will kein Geld. Sie hat hier alles, und Louis ist ihr Freund. Er würde für sie dasselbe tun.
Jeden Monat kommen jetzt neue Gelder rein. Die CD läuft überall im Rundfunk. Die Gema Gebühren fließen erst spärlich und dann immer kräftiger. Wie gut, dass die Gruppe in den letzten 12 Monaten ein ganzes Dutzend dieser Stücke eingeübt hat. Sie sind alle aus einem Guss und die Gruppe geht jetzt erneut ins Studio, um die erste große CD aufzunehmen.
Elvira hatte die Gruppe oft besucht. Sie hatte sie manchmal zu den Konzerten begleitet. Sie hatte mal Backstage gesessen, mal im Publikum. Sie war bei der Aufnahme des ersten Videos dabeigewesen und sie hatte gesummt. Sie hatte der Gruppe geholfen, sich selbst zu entdecken.
Oma Katharina hatte nach dem Erfolg genickt. “Louis hat die Zeitströmung erfasst”, hatte sie gesagt.
Es war nicht das Einzige, was Elvira in diesen fünfzehn Monaten beschäftigte, aber Elvira weiß, dass sie der Gruppe den entscheidenden Impuls gegeben hat. Es ist ihr Erfolg. Ihr persönlicher kleiner Erfolg. Jetzt spürt sie plötzlich, wie sie ihre Macht einsetzen kann. Sie hat für sich selbst einen Weg gefunden.
2.2.
Elvira geht in dieser Zeit weiter wie bisher zur Schule. Sie trifft sich mit den Kids im Untergrund, und sie trifft sich mit ihren Geschwistern. Mal in Peru, mal bei Oma Katharina, mal bei Fred oder mal bei Paco in Mexiko.
Noch etwas anderes ist es, was Elvira in dieser Zeit beeindruckt. Durch Lara hat sie eine Menge Kontakte. Elvira kennt auch all diese uniformierten Ordner, die im Zentrum für Sicherheit sorgen und auch viele der Sozialarbeiter, die sich um die Sorgen der Kids kümmern. Sie weiß, dass viele der Kids aus dem Bunker regelmäßig zum Training gehen. Es gibt da mehrere Kickboxschulen. Sie war ein paar Mal mitgegangen und hatte sich das angeschaut.