Von Frisch kam zu folgendem Schluss: Wenn die Bienen diese Muster wahrnehmen können, ist es überhaupt nicht nötig, dass sie die Sonne selbst sehen; die E-Vektoren allein ermöglichen es ihnen, den Sonnenazimut zu ermitteln. Diese These konnte er schon bald mithilfe von polarisierenden Filmen beweisen, die er während einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten von Edwin Land, dem Erfinder der Polaroid-Kamera, erhielt.4
Honigbienenuhren
Die Entdeckung, dass Honigbienen Polarisationsmuster am Himmel wahrnehmen können und sich daran orientieren, auch wenn die Sonne selbst nicht sichtbar ist, war ein bedeutender Durchbruch. Doch nur, weil das Tier den Sonnenazimut kennt, kann es noch lange nicht einen direkten Kurs beibehalten – zumindest nicht auf Dauer. Irgendwie muss es die ständige Fortbewegung der Sonne über den Himmel ausgleichen. Und das bedeutet, dass es die Zeit mitverfolgen muss. War es möglich, dass Honigbienen zusätzlich zu ihren anderen erstaunlichen Fähigkeiten auch noch über eine innere Uhr verfügten?
Ein interessanter Hinweis war 1929 aufgetaucht, doch dessen Bedeutung war nicht sofort erkannt worden. Eine von Karl von Frischs Studentinnen, Inge Beling, hatte damals Folgendes festgestellt: Wurden Honigbienen mehrere Tage lang zur gleichen Zeit gefüttert, tauchten sie an den nachfolgenden Tagen genau zur selben Zeit am Futterplatz auf. Spätere Versuche zeigten, dass dieses bemerkenswerte Verhalten nicht auf irgendwelchen äußeren Hinweisen wie etwa dem sich verändernden Sonnenazimut beruhte. Damals fragte sich von Frisch, ob dieser Mechanismus »eine sinnlose Gabe der Natur« sei oder irgendeine biologische Bedeutung habe.5 Erst zu Beginn der 1950er-Jahre konnte er eine eindeutige Antwort auf diese Frage geben.
Mit der Unterstützung seines Studenten Martin Lindauer (1918–2008) richtete von Frisch einige Bienen darauf ab, am Nachmittag – wenn die Sonne im Westen stand – eine Futterquelle aufzusuchen, die sich ungefähr 180 Meter nordwestlich von ihrem Stock befand. Anschließend verfrachteten die Forscher den Stock an einen völlig neuen Standort, der den Bienen gänzlich unbekannt war (sodass sie sich auch nicht an vertrauten Landmarken orientieren konnten). Dann stellten sie im Abstand von 180 Metern rings um den Stock Schälchen mit Konditionierungsfutter auf, und zwar in vielen verschiedenen Richtungen. Weil es Vormittag war, stand die Sonne im Osten. Trotzdem fand die Mehrzahl der Bienen den Weg zu dem Futternapf, der im Nordwesten des Korbes stand, wo sie am Tag zuvor hindirigiert worden waren. Die einzige mögliche Erklärung war die, dass die Bienen den sich verändernden Azimut der Sonne berücksichtigten.6 Und dazu mussten die Bienen eindeutig in der Lage sein, den Verlauf der Zeit nachzuverfolgen.
Auch eine weitere überraschende Beobachtung lieferte die Bestätigung dafür, dass Bienen über einen Sonnenkompass mit Zeitausgleich verfügen. Wenn Bienen ausschwärmen und sich einen Standort für ein neues Nest suchen, senden sie zunächst Kundschafter aus. Diese vollführen nach ihrer Rückkehr Tänze, die manchmal mehrere Stunden lang dauern und die Richtung des empfohlenen Standorts anzeigen. Daraufhin fliegen andere Bienen los, um diese Stelle zu inspizieren. Sobald ein Konsens gefunden wurde, fliegt der Schwarm zu dem demokratisch ausgewählten neuen Stammsitz. Im Lauf dieser Marathontänze verändert sich die Ausrichtung des Schwänzeltanzes der Kundschafter entsprechend dem sich verändernden Azimut der Sonne. Das wäre nicht sonderlich beeindruckend, wenn die Bienen die Sonne oder den Himmel sehen könnten, doch sie gleichen die Richtung ihres Tanzes selbst dann aus, wenn sich ihr Stock in einem abgedunkelten Raum befindet.7
Von Frischs Enthüllungen über das Orientierungsvermögen der Honigbiene erregten großes Aufsehen, denn sie schienen darauf hinauszulaufen, dass Insekten – obwohl sie so winzig sind – höchst anpassungsfähig und vielleicht sogar intelligent sind. Für viele Forscher seiner Zeit war das nur schwer zu akzeptieren. Sie waren aus Prinzip davon überzeugt, dass Tiere wie Bienen einfach nicht so hoch entwickelt sein konnten.
Als Problem sah man jedoch die Tatsache, dass von Frisch, genau wie Tinbergen, die meisten seiner Versuche im Freien durchführte, in einem natürlichen Umfeld, das sich nicht so exakt kontrollieren ließ wie ein Laboratorium in geschlossenen Räumen. Den Weißkitteln war es vermutlich schwergefallen, die Thesen eines Mannes ernst zu nehmen, der in Lederhosen über Bergwiesen stiefelte. Vielleicht mischte sich in ihre Skepsis auch ein wenig Neid.
Von Frischs Arbeiten waren jedoch von solcher Sorgfalt und Eleganz, dass sich die meisten Zweifler schon bald überzeugen ließen. Ein führender britischer Verhaltensforscher jener Zeit, William Thorpe (1902–1986), der von Frisch kurz nach dem Krieg besuchte, merkte in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Nature an: »Dem Zoologen sei in der Tat verziehen, wenn er anfangs Skepsis empfindet – trotz der immensen Ausführlichkeit und Gründlichkeit der Untersuchung.«
Thorpe erwähnte einen Kollegen, der beinahe »leidenschaftlich ungewillt« war, von Frischs Befunde anzuerkennen, deren Folgerungen zugegebenermaßen »sicherlich revolutionär« waren. Thorpe selbst war überzeugt und kam begeistert zu dem Schluss, das Verhalten der Arbeiterbiene zeuge von einer »elementaren Form des Kartierens und Kartenlesens, einer symbolischen Handlung, bei der die Richtung und Bewegung der Schwerkraft8 ein Symbol für die Richtung und den Einfall der Sonnenstrahlen sind«.
Von Frischs revidierte Auslegung des Schwänzeltanzes fand zwar immer mehr Anerkennung und stieß auch weit außerhalb der Zoologie auf Interesse, doch nicht jeder konnte seinen Thesen etwas abgewinnen. Gegen Ende seiner Laufbahn wurden erneut Zweifel in einer besonders beunruhigenden Form laut; im Jahr 1967 veröffentlichten zwei junge amerikanische Forscher die Ergebnisse neuer Versuche mit Honigbienen samt umfangreichen Statistiken, die von Frischs zentrale Erkenntnisse direkt infrage stellten. Es war ein Glück für den alternden Wissenschaftler, dass Studien, die 1970 erschienen, zu den gleichen Ergebnissen kamen wie er und seine Schlussfolgerungen bestätigten.9
– – – –
Die Küstenseeschwalbe mit ihren pfeilförmigen Flügeln und ihrem geschickten Tauchflug genießt einen ewig währenden Sommer, indem sie zwischen dem hohen Norden und dem tiefen Süden pendelt. Doch bis vor Kurzem war das wahre Ausmaß ihrer saisonalen Wanderungen nicht klar. Im Juni 2011 fingen holländische Wissenschaftler in den Niederlanden sieben Küstenseeschwalben ein und brachten an deren Beinen sogenannte Geolokatoren an, die jeweils ganze 1,5 Gramm wogen. Diese Geräte zeichneten täglich den Zeitpunkt des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs auf. Nachdem fünf der Tiere ein Jahr später wieder eingefangen wurden, konnten die Forscher anhand dieser Informationen die Reisen der Vögel rekonstruieren. Die Küstenseeschwalben hatten sich im Durchschnitt 273 Tage fern von ihren Kolonien in den Niederlanden aufgehalten und 90 000 Kilometer zurückgelegt. Dies zählt (bisher) als der längste je dokumentierte Vogelzug; er übertrifft frühere Schätzungen für dieselbe Spezies um rund 20 000 Kilometer. Bei einer vorherigen Studie hatte man beobachtet, dass Küstenseeschwalben aus Grönland überwiegend im nördlichen und südlichen Atlantik verweilten, wobei sie in einer annähernden Achterkurve hinunter in die Antarktis und wieder zurück flogen. Die Vögel aus den Niederlanden hingegen wanderten zunächst bis zur Südspitze Afrikas und flogen dann quer über das Südmeer fast bis Australien, bevor sie nach Süden zur Antarktis steuerten und schließlich über den Atlantik nach Hause zurückkehrten. Sie bewältigten damit eine viel längere Runde.10
Bislang kann niemand mit Sicherheit sagen, wie die Küstenseeschwalbe über die riesigen Weiten des offenen Meeres navigiert beziehungsweise wie sie ihre Brutkolonien ausfindig macht.
6. KAPITEL
Koppelnavigation
Heutzutage erscheint es erstaunlich, dass einst so viele Seeleute bereit waren, ihr Leben bei der Überquerung der Ozeane aufs Spiel zu setzen – zu einer Zeit, als die verfügbaren Navigationsgeräte hoffnungslos unzulänglich waren. Sie gingen auf Reisen, die manchmal monatelang dauerten, und hatten keinerlei zuverlässige Hilfsmittel, um die eigene Position zu bestimmen. Da sich Frischkost nicht konservieren ließ und Trinkwasservorräte nur bei Regen aufgefüllt werden konnten, war die Hochseeschifffahrt ein weitaus riskanteres Unterfangen als heute. Navigationsfehler