Den narren spiegel ich diß nenn
In dem ein yeder narr sich kenn
Wer yeder sy wurt er bericht
Wer recht in narren spiegel sicht
Wer sich recht spiegelt
der lert wol
Das er nit wis sich achten sol.
Das ist nämlich der Hauptfehler der Narren, dass sie ihre Narrheit nicht eingestehen wollen:
Eyn narr ist wer gesprechen dar
Das er reyn sig von sünden gar
Doch yedem narren das gebrist
Das er nit syn will
das er ist.
Dabei wäre Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung:
Dann wer sich für ein narren acht
Der ist bald zů eym wisen gmacht.
Wo Brant mit christlicher Sündenschelte auf den Glauben verweist, spürt man noch mittelalterlichen Ernst und Eifer; doch wo er den innerweltlichen Narren vor der Vernunft lächerlich macht, weht der frischere Wind bürgerlich-humanistischer Satire.
Johannes von Tepl, der Elsässer Sebastian Brant und seine Landsleute, der berühmte Prediger GEILER VON KAISERSBERG (1445–1510), der Pädagoge JAKOB WIMPFELING (1450–1528), THOMAS MURNER (um 1475–1537) und später der Jurist JOHANN FISCHART (um 1546–1590) waren eigentlich Gelehrte, die sich nur um der breiteren Wirkung ihrer Lebenslehre willen an den volkssprachigen Hörer und Leser wandten. HANS SACHS (1494–1576) dagegen war selbst ein Mann aus dem Volke: Nürnberger Bürger, Schuhmachermeister und literaturbegeisterter Autodidakt, der jeden Stoff, dessen er gewahr wurde, aufgriff und, mit einer biederen Moral versehen, in Knittelverse7 brachte. Wenn ihm die Moral eindrucksvoll genug schien, bearbeitete er denselben Stoff gleich mehrfach als Lied, als Erzählung und als Spiel. Auf diese Weise reimte der Unermüdliche über sechstausend Dichtungen zusammen. In seinen Meisterliedern bemühte sich Hans Sachs vergeblich um volksliedhafte Natürlichkeit. Die in den Tabulaturen, den Regelbüchern der Singschulen, vorgeschriebene Behandlung von Sprache, Reim, Betonung usw., deren Regelhaftigkeit beim Vortrag von »Merkern«8 überwacht wurde, zwang jeden Meistersinger zu handwerklicher Pedanterie und Künstelei.9 Aber als Schwankerzähler und als Dichter von Fastnachtspielen wird Hans Sachs heute noch geschätzt.
Das Fastnachtspiel ist wohl kaum, wie man lange Zeit glaubte, aus alten Fruchtbarkeitsriten hervorgegangen. Es entstand viel eher unabhängig von solchen Maskeraden um 1430/40 in Lübeck und Nürnberg als belustigender, seltener als besinnlicher Beitrag zum Fastnachtstreiben.
Hans Sachs, Meister dieses anspruchslosen Volksschauspiels, hat 85 Fastnachtspiele hinterlassen, die zum Teil heute noch aufgeführt werden. Diese durchschnittlich 340 Verse umfassenden Dialoge zwischen drei bis sechs Personen sind anschaulich und ohne überflüssiges Wort ganz und gar für ein realistisches Spiel voll treuherzigen Humors eingerichtet. Wer den Fahrenden Schüler im Paradies (1550), Das Kälberbrüten (1551) oder Das heiße Eisen (1551) liest, sollte sich den Text immer gespielt vorstellen.
Das Fastnachtspiel war ein wichtiger Schritt zur Entwicklung des deutschen Dramas. Wichtiger noch für die Entwicklung des Romans war das sogenannte Volksbuch. Das Aufkommen des Papiers und Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern (1453) verbilligten die Herstellung der Bücher so wirkungsvoll, dass es plötzlich möglich wurde, die wachsende bürgerliche Leserschaft mit den beliebtesten Erzählstoffen des Mittelalters zu versorgen.
Das Wort ›Volksbuch‹10 meint im weiteren Sinne volkstümliche Lesestoffe unterschiedlichster Herkunft: etwa die Prosa-Auflösungen der mittelhochdeutschen Versepen wie Tristan und Isolde (1484) und die Wunderschöne Historie11 von dem gehörnten Siegfried (1726); auch die Erzählungen nach französischen Vorbildern wie die Liebesgeschichte von Melusine (1456) und Die schöne Magelone (1535). – Die Volksbücher im engeren Sinne verarbeiten wie JÖRG WICKRAMS (um 1505 – vor 1562) Rollwagenbüchlein (1555) Erzählungen und Schwänke, die bis dahin nur mündlich überliefert worden waren. Sie kristallisieren sich um historische Personen wie beim Kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel (1515) und in der Historia von D. Johann Fausten (1587); oder sie sind einem bestimmten Thema zugeordnet wie im Lalebuch (1597) und den Schildbürgern (1598).
Das Gemeinsame aller Volksbücher ist die gedankliche Schlichtheit und das vordergründige Interesse am Stoff bei einfacher, oft derber Darstellung.
b) Die Gelehrten
Wie die Geistlichen im 10. und 11. Jahrhundert (vgl. Kap. 1b) schrieben die deutschen Gelehrten des 15. und 16. Jahrhunderts in eigener Sache lateinisch; allerdings nicht das im Laufe der Zeit abgewirtschaftete Kirchenlatein, sondern ein gepflegtes ciceronianisches Latein. Das hatte äußere und innere Gründe:
Nachdem griechische Gelehrte 1453 auf der Flucht vor den Türken Manuskripte der antiken Schriftsteller aus Konstantinopel nach Italien gebracht und daselbst eine Rückbesinnung auf die römische Antike ausgelöst hatten, wurde der Ruf ad fontes (›zurück zu den Quellen!‹) bald von allen europäischen Gelehrten verbreitet und befolgt. Die Rückwendung zur Antike, die für die Italiener12 ein politischer Akt der nationalen Selbstbesinnung gegenüber der französischen und deutschen Fremdherrschaft war, führte in Deutschland zur Entdeckung humanistischer Bildung überhaupt.
Humanitas (›Menschlichkeit‹) nannte Cicero »die ethisch-kulturelle Höchstentfaltung der menschlichen Kräfte in ästhetisch vollendeter Form«.13 Diese neuentdeckte Würde der Persönlichkeit setzt den freien Gebrauch der Vernunft voraus. Darum verlangten die Humanisten, die das neue Menschenideal vor allem im Redner, im Dichter und im Philosophen verwirklicht sahen, die Befreiung der Wissenschaft und Bildung von der Vormundschaft der Kirche und der scholastischen Philosophie. So wurden die Schulen und Universitäten, die eigentlich eine innere Erneuerung durch Verbindung antiker Weisheit mit christlicher Ethik anstrebten, unversehens zu Wegbereitern der Reformation; d. h. ebenjener Bewegung, die mit ihren radikaleren Forderungen dem Humanismus um 1550 ein Ende bereitete.
Der aus Pforzheim stammende Jurist JOHANNES REUCHLIN (1455–1522) war überzeugt davon, dass Sprachverständnis Weltverständnis sei. Er schrieb ein lateinisches Wörterbuch, eine griechische Grammatik und begründete mit seiner hebräischen Sprachlehre die moderne deutsche Hebraistik und Orientalistik. Als nun der konvertierte Kölner Jude Johannes Pfefferkorn (1469–1522/23) von Kaiser Maximilian I. verlangte, man solle die hebräische Literatur der Juden verbrennen, wurde auch der sprachgelehrte Jurist um ein Gutachten gebeten: Reuchlin wies Pfefferkorns Ansinnen zurück und empörte damit die konservativen Kölner Dominikaner, die Reuchlin im Verlauf des sogenannten Hebraismusstreites vor ein Inquisitionsgericht zerrten. Doch die reformfreudigen Humanisten unterstützten Reuchlin, und dieser veröffentlichte die Zuschriften seiner Gesinnungsfreunde unter dem Titel Clarorum virorum epistolae, latinae, graecae et hebraicae variis temporibus missae ad Joannem Reuchlin Phorcensem (1514).
Als fingiertes Gegenstück zu diesen »Briefen berühmter Männer« erschienen ein Jahr darauf die Epistolae obscurorum virorum, die »Briefe der Dunkelmänner«, in denen die Humanisten, vor allem der Erfurter CROTUS RUBEANUS (um 1480 – um 1545) und sein Freund Ulrich von Hutten die obskuren Ansichten der spätscholastischen Finsterlinge durch scheinbare dümmliche Beipflichtung dem Spott aller »clarorum virorum« auslieferten.
Der eindrucksvollste Vertreter des Humanismus war ERASMUS VON ROTTERDAM (1469?–1536). Dieser weltbürgerliche Gelehrte, der studierend Frankreich, Italien und England bereist und sich dann (1521) in Basel niedergelassen hatte, stand mit fast allen europäischen Geistesgrößen seiner Zeit im Briefwechsel. Seinem englischen Freund Thomas Morus widmete er 1509 Das Lob der Torheit. Darin preist die personifizierte Torheit sich selbst und verkündet mit großem rednerischen Aufwand vom Katheder