Der eitle Bauer Helmbrecht hört nicht auf die Warnung seines rechtschaffenen Vaters: »dîn ordenunge ist der phluoc«. Er putzt sich höfisch heraus und wird Raubritter. Er kränkt seine Eltern und verheiratet seine Schwester mit einem Spießgesellen. Am Ende wird er vom Henker geblendet und verstümmelt, vom Vater des Hofes verwiesen und von anderen Bauern aus Rache erhängt. Das Symbol31 seiner Überheblichkeit, die kunstvoll verzierte Haube, endet zerfetzt am Boden. – Das kleine novellistische Meisterwerk ist leicht im Original zu lesen.
Wie so oft in Zeiten des Umbruchs und der Unsicherheit nahmen die Menschen wieder häufiger Zuflucht zur Religion, nicht selten sogar zur mystischen Einkehr: Weltabgewandt, in die eigene Seele versenkt, suchten die Mystiker den tröstenden Beweis ihrer Gotteskindschaft in der unio mystica. Durch Askese des Leibes (Fasten, Schweigen, Wachen) bei gleichzeitiger Anstrengung aller Seelenkräfte (Denken, Fühlen, Wollen) wurde ihnen gelegentlich ihr »geist recht verstoln licht eins halben Ave Marien lang« (Tauler). Von diesem inneren Erleben beseligt, drängte es die Mystiker oft, ihre Visionen in überschwenglichen Worten mitzuteilen, so dass die deutsche Sprache gerade dieser religiösen Praxis eine außerordentliche Bereicherung des Wortschatzes auf dem Gebiet des Geistig-Seelischen verdankt.
Das eindrucksvollste dichterische Zeugnis deutscher Frauenmystik stammt von MECHTHILD VON MAGDEBURG (1207/10 – 1282/83). Es ist das Offenbarungsbuch mit dem Titel Das fließende Licht der Gottheit (1250–1281/82).
Die Begine Mechthild erlebte die mystische Vereinigung als geistliche Hochzeit mit Gott, als erotische Ekstase ihrer Seele. In Anlehnung an das Hohelied Salomonis (vgl. das St. Trudperter Hohe Lied, Kap. 1b) spricht ihr Seelenbräutigam:
Ich erwarte dich in dem Baumgarten der Liebe
und breche dir die Blume der süßen Vereinigung
und bereite dir da ein Bett
aus dem lustvollen Gras der heiligen Erkenntnis,
und die helle Sonne meiner ewigen Gottheit
bescheint dich mit dem heimlichen Wunder meiner Lust […].
Das ursprünglich niederdeutsche Buch berichtet in ausdrucksstarker, bildhafter Sprache von Mechthilds Visionen, Prophezeiungen und Lehren, bald in den Formen geistlicher Lyrik, hymnischer Gebete oder gereimter Sinnsprüche, bald in den Formen des Dialogs oder des Lehrgedichts.
Der Dominikaner MEISTER ECKHART (um 1260–1327) und seine Schüler HEINRICH SEUSE (um 1295–1366) und JOHANNES TAULER (um 1300–1361) führten später in ihren Predigten und Andachtsbüchern das mystische Denken fort. Meister Eckharts Spekulationen kreisten um die Vorstellung der Geburt Gottes in der Seele aus dem gottverwandten »Seelenfünklein«. Durch ihren Zug zum ganz Persönlichen bereitete die mystische Frömmigkeit allmählich den Boden für Luthers Reformation, in der das Heil des Menschen als allein vom Glauben (sola fidem) abhängend erklärt wurde (vgl. Kap. 2c).
2. Die frühneuhochdeutsche1 Literatur (1350–1600)
Die Autoren der frühneuhochdeutschen Literatur wollten vor allem unterhalten und belehren. Sie bedienten sich dazu der unterschiedlichsten literarischen Formen; meist jedoch, ohne diese zu wirklicher ästhetischer Bedeutung zu bringen. So stehen dem neuen Formenreichtum dieser Epoche verhältnismäßig wenige hervorragende Einzelwerke gegenüber.
Auf dem Gebiet der Lyrik entwickelte sich aus dem höfischen Minnesang der bürgerliche Meistersang. Aus den Liedern der niederen Minne entstand das Volkslied, das oft durch Kontrafaktur2 zum Kirchenlied weiterverwandelt wurde.
Durch Prosa-Auflösungen der mittelhochdeutschen Versepen entstanden als sogenannte Volksbücher die ersten Helden-, Ritter- und Abenteuerromane. Kürzere Erzählungen wie Fabeln, Novellen, Schwänke und Fazetien3 wurden, angeregt durch Boccaccios Decamerone (1349/53), vielfach gesammelt und gebündelt herausgegeben. – Für das religiöse Publikum gab es Predigtsammlungen und erbauliche Andachts-, Gebets- und Sterbebüchlein.
Das geistliche Spiel, das aus der lateinischen Liturgie der Ostermesse hervorgegangen war, führte bald zur dialogischen Darstellung des Heilsgeschehens anlässlich anderer Kirchenfeste. Den ursprünglichen Osterspielen traten Weihnachtsspiele, Fronleichnams- und Passionsspiele zur Seite, deren immer volkreichere Aufführungen endlich aus der Kirche auf den Marktplatz verlegt werden mussten, wo sie in der Schwellform mehrtägiger Festspiele oft die Bürgerschaft ganzer Städte beherrschten. – Neben dem geistlichen Spiel gab es als weltlichen Vorläufer des Dramas das possenhafte Fastnachtspiel mit dem Hang zu grobianischer Verwilderung. Beide volkstümlichen Vorformen wurden nach der Reformation vom humanistischen Schuldrama abgelöst. Das Humanistendrama, das zuerst der lateinischen Sprach- und Redeschulung diente, knüpfte an das antike Drama an und führte die Spieldauer und die Zahl der Darsteller auf ein vernünftiges Maß zurück. Als auf Anregung Luthers und Melanchthons (1497–1560) das Schuldrama in deutscher Sprache Konfliktstoffe der Reformation aufgriff, antwortete die Gegenreformation mit dem sogenannten Jesuitendrama (vgl. Kap. 3b).
Darüber hinaus bediente man sich in der geistig-politischen Auseinandersetzung der alten Form des Streitgesprächs, des öffentlichen Briefes und neuerdings der Flugschrift und des Flugblattes. In allen diesen Formen aber sprachen die Autoren mit Vorliebe allegorisch (vgl. Kap. 3, Anm. 14), lehrhaft (vgl. Kap. 1, Anm. 30) und satirisch (vgl. Kap. 8, Anm. 11).
a) Volkstümliche Schriftsteller
Als Totenklage für seine Frau Margaretha verfasste der Schulrektor und Notar JOHANNES VON TEPL (um 1350 bis 1414) in Saaz ein Streitgespräch mit dem Tode. Einem dichterischen Topos4 folgend, stellt er sich darin dem Tod als ein Mann der Feder vor: »Ich bins genant ein ackerman, von vogelwat ist mein pflug, und wone in Behemer lande.« Das in der Form eines mittelalterlichen Gerichtsprozesses angelegte Streitgespräch heißt danach Der Ackermann aus Böhmen (kurz nach 1400).
Des Raubes und Mordes angeklagt, begegnet der Tod dem Ackermann zuerst mit kaltem Spott. Nachdem sich der aufgebrachte Kläger aber mäßigt und der Dialog5 von dem persönlichen Anlass zu einer grundsätzlichen Betrachtung von Leben und Tod übergeht, rät der Tod begütigend zu stoischer und augustinischer Weltverachtung:
[…] alles irdisch ding und lieb muß zu leide werden. Leid ist liebes ende, der freuden ende trauren ist, nach lust unlust muß komen, willens ende ist unwillen. Zu solchem ende laufen alle lebendige ding.
Der Ackermann verteidigt gegenüber solchen Hinweisen auf Nichtigkeit und Vergänglichkeit die Schönheit des Lebens und das menschliche Glücksverlangen; bis nach 32 Kapitelchen, in denen abwechselnd der Tod und der Ackermann sprechen, im 33. Kapitel das Urteil Gottes ergeht:
Der klaget, das nicht sein ist; diser rümet sich herschaft, die er nicht von ihm selber hat. Jedoch der krieg ist nicht gar one sache: ir habet beide wol gefochten. Den twinget leid zu klagen, disen die anfechtung des klagers, die warheit zu sagen. Darumb: klager, habe ere, Tod, habe sige, seit [weil] jeder mensche das leben dem Tode, den leib der erden, die sele uns pflichtig ist zu geben.
Mag dies Ende auch mittelalterlich sein, neu ist sicher die gepflegte Prosa, in der zum erstenmal die Stilmittel der lateinischen Rhetorik virtuos in deutscher Sprache gehandhabt werden. Der formale Rang, dazu die gedankliche Tiefe machten den Ackermann aus Böhmen allerdings zu einem anspruchsvollen Buch. Die große Leserschaft wünschte volkstümlicheren Stoff:
Einzigartig vor Goethes Werther ist in der deutschen Literatur der europäische Bucherfolg, den der Straßburger Rechtsgelehrte SEBASTIAN BRANT (1458–1521) mit seinem Narrenschiff (1494) erzielte. Dieses Buch, das bereits im Erscheinungsjahr drei Raubdrucker beschäftigte, das gleich zweimal ins Lateinische übersetzt wurde und dessen Text Geiler von Kaisersberg 1498/99 in einem Zyklus von 146 Predigten auslegte, rief die zweihundert Jahre lang beliebte Narrenliteratur ins Leben. Den Verfasser Brant verglichen die begeisterten Zeitgenossen mit Petrarca, mit Dante, ja, mit Homer.6 – Wie