Auch der italienische Dichter Torquato Tasso folgt seinem Dämon;6 und dieser, sein geniales Talent, bringt ihn in Spannungen zu ebender Hofgesellschaft, die ihn fördert und begünstigt.7 Der Umstand, dass am Hof nicht schon »erlaubt ist, was gefällt«, sondern nur »erlaubt ist, was sich ziemt«, verlangt von Tasso die Mäßigung seines Temperaments. Aber gerade die Beschränkung durch gesellschaftliche Formen bedeutet eine schwer erträgliche Wesensbeschneidung für das Genie. Vom Überschwang unbeherrschbaren Gefühls hingerissen, verletzt Tasso die höfische Form. Als sein Gönner und seine Geliebte sich darauf von ihm zurückziehen, gerät er, »ein gesteigerter Werther«, an den Rand des Wahns. Ihm bleibt als einziger Trost das Bewusstsein, dass er sein Leid in Dichtung zu verwandeln vermag.
Egmont, Tasso und auch der Faust haben ihre Wurzeln im Sturm und Drang. Goethe brachte das Manuskript des Urfaust mit nach Weimar. 1790 gab er den Faust als Fragment heraus, 1808 den vollständigen ersten Teil. Den zweiten Teil vollendete er 1832, wenige Tage vor seinem Tod. Die Entstehung dieses großartigen Dramas zieht sich damit über fast sechzig Jahre hin. In dieser langen Zeit ging so viel mit in das Werk ein, dass das Ergebnis mit dem Wort ›Klassik‹ kaum zu fassen ist. Im Faust gibt es viel mehr Personen, Schauplätze und Episoden8 als in der Iphigenie oder im Tasso. Die Zeit springt mehrmals zurück oder scheint in Visionen überhaupt aufgehoben. So entsteht eine vielgestaltige, bilderreiche, mitunter rätselhafte Welt, die, im zweiten Teil verstärkt durch den persönlichen Altersstil Goethes, der Romantik fast näher steht als der Klassik.
Faust, der Teufelsbündler des alten Volksbuches (vgl. ↑), sucht bei Goethe nicht mehr bloß Reichtum und Macht, sondern er möchte erkennen, »was die Welt / Im Innersten zusammenhält«. Wie die Gedichte von Brockes zeigten,9 ist dieser auf die Welt gerichtete Wissensdurst aber im Grunde ein deistischer Versuch (vgl. Kap. 4, Anm. 5), Gott zu erkennen. Ein Teufelsbund zu diesem Zweck ist weit weniger unmoralisch als der Pakt im Volksbuch. Doch, »es irrt der Mensch, solang’ er strebt«. Faust verstrickt sich in schwere Schuld. Bei seiner Verführung Gretchens wird deren Mutter durch einen Schlaftrunk vergiftet und ihr Bruder Valentin im Duell getötet. Faust flieht, und das entehrte und verlassene Gretchen wird als Kindermörderin hingerichtet.
Wie die Gretchentragödie steht auch die Handlung des zweiten, dramatisch weniger bündigen Teils im Rahmen der zwischen Faust und dem Teufel Mephistopheles geschlossenen Wette, wonach Faust, sobald er träger Zufriedenheit erliegt, dem Teufel die Seele schuldet. – Da aber Fausts Verführbarkeit durch Mephisto selbst wiederum Inhalt einer Wette ist, die Mephisto und Gott im Himmel abgeschlossen haben, kann Faust eigentlich nur mit Gott zugleich gewinnen oder verlieren. Doch dieser mysterienspielähnliche10 äußere Rahmen tritt im Bewusstsein des Zuschauers zurück, so dass im Zusammenspiel mit anderen verborgenen Widersprüchen jenes unauflösliche Geflecht von tragischer Schuld und Rechtfertigung entstehen kann, das noch Generationen begeistern wird. Und weil sich Goethes aus dem Volksbuch hervorgegangener Faust bewusst an jeden geistig aufgeschlossenen Menschen wendet, sollte sich auch der unerfahrene Leser weder durch den Ruhm noch durch wichtigtuerische Interpreten des Werkes abschrecken lassen, den Faust selbst zu lesen.
Im Streben nach vollendeter Form verglichen die Klassiker ihre Werke gern mit antiken Mustern. Dem Epos (vgl. Kap. 1, Anm. 19) als einer frühen, zugleich hochentwickelten Gattung galt dabei besondere Aufmerksamkeit. Seine Entwicklung war, ausgehend von Homer (Ilias, Odyssee), über Vergil (Aeneis) zu Dante (Divina Comedia) gegangen. Milton (Paradise Lost) hatte die Gattung neu belebt, die dann in Deutschland von Klopstock mit dem Messias aufgegriffen und schließlich von Voß mit der Luise ins Bürgerlich-Idyllische gewandt wurde. Hiervon angeregt, schrieb Goethe 1797 Hermann und Dorothea, ein Epos in neun Gesängen. Das seinerzeit vielgepriesene Werk verherrlicht jenes ruhige besitzbürgerliche Gemeinwesen, gegen dessen behaglich-behäbige Trägheit sich Werther aufgelehnt hatte. Auch heute scheint das ungebrochene Verhältnis zum Bürgertum in diesem klassischen Idyll manchem Leser fragwürdig. Die formgeschichtliche Entwicklung der Literatur hat jedenfalls gezeigt, dass sich der ursprünglich erhabene Gegenstand des Epos nicht einfach durch einen alltäglich biederen ersetzen lässt. Vielmehr blieb der von Goethe als »unreine Form« und von Schiller als »Halbbruder der Poesie« geringgeschätzte Prosaroman (vgl. Kap. 3d) der unangefochtene Erbe des formstrengeren Epos. Und Goethe, der einst durch den Roman von Werthers Leiden berühmt geworden war, gab dieser zukunftsträchtigen Gattung mit dem Wilhelm Meister ein weiteres Musterstück.
Der Entwurf, Wilhelm Meisters theatralische Sendung, reicht wiederum in die Sturm-und-Drang-Zeit zurück; und wie der Faust wurde dieser »Urmeister« erst auf Schillers Drängen hin nach Goethes Italienreise weiterbearbeitet. Der erste Teil, Wilhelm Meisters Lehrjahre, erschien 1795 bis 1796; der zweite, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821 (erweitert 1829). Die gut tausend Seiten umfassende Erzählung, deren Entstehung sich über ein halbes Jahrhundert hinzog, gilt als Muster eines Erziehungsromans11.
Wilhelm Meister möchte seine natürlichen Anlagen im humanistischen Sinne ganz entfalten und zu einer harmonischen Persönlichkeit ausreifen. Dazu scheint es ihm nötig, »eine öffentliche Person zu sein, und in einem weitern Kreise zu gefallen und zu wirken«. Weil dies aber in der Standesgesellschaft dem Adel vorbehalten ist, wendet sich der bürgerliche Kaufmannssohn dem Theater zu. Er sagt: »Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen.« Entsprechend der damals viel erörterten Bedeutung des Theaters für die Erziehung kommt der Held, dessen Vorname auf das dramatische Genie Shakespeare deutet, mit mannigfachen Formen des Theaterlebens in Berührung. Doch wie sich der urprüngliche Künstlerroman von der Theatralischen Sendung zum allgemeineren Erziehungsroman der Lehrjahre entwickelte, verloren das Theater und die künstlerische Meisterschaft des Helden an Gewicht. Wilhelm Meister bleibt Dilettant, das Theater bleibt eine von mehreren Durchgangsstationen auf seinem Bildungsweg. Die geheimnisvolle Turmgesellschaft, die über Wilhelm Meisters Entwicklung wacht, verlangt, dass der Mensch, dessen individuelle Bildung einen gewissen Grad erreicht hat, »lernt, um anderer willen zu leben und seiner selbst in einer pflichtmäßigen Tätigkeit zu vergessen«. Mehr noch, die pädagogischen Freimaurer vom Turm meinen: »Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt.« Folgerichtig tragen Wilhelm Meisters Wanderjahre den Untertitel »Die Entsagenden«. Über die vielseitige Persönlichkeitsbildung (»mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden«) wird nun die einseitige Fachausbildung gestellt. Gleich anfangs heißt es: »Sich auf ein Handwerk zu beschränken, ist das Beste. Für den geringsten Kopf wird es immer ein Handwerk, für den besseren eine Kunst, und der beste, wenn er eins tut, tut er alles, oder, um weniger paradox zu sein, in dem einen, was er recht tut, sieht er das Gleichnis von allem, was recht getan wird.« – Wilhelm Meister wird Chirurg. Doch davon handelt das von Gedichten, Aphorismen12, Briefen, Tagebuchauszügen, Fachabhandlungen und novellistischen Episoden überquellende Buch nur am Rande. Wie im zweiten Teil des Faust löst sich in den Wanderjahren die bündige Form zugunsten einer romantisch lockeren Komposition symbolischer »Bezirke«. Eine der zahlreichen Einlagen konnte Goethe 1809 als selbständigen Roman ausgliedern:
Dieser Liebes- und Eheroman mit dem symbolischen Titel Die Wahlverwandtschaften zeigt an einem Modell, wie der Mensch im Konflikt zwischen Natur- und Sittengesetz durch Entsagung seine geistige Freiheit behaupten kann.
Enthält Goethes großer Bildungsroman manchen autobiographischen Zug, so enthält umgekehrt die klassische Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (1811–33) den Versuch, die gelebte Wirklichkeit dichterisch sinngebend nachzugestalten. Denn, so sagt Goethe,