Daß ein Verbrechen nur vom Fall dich rettet,
So falle! Falle würdig, wie du standst.
Max selbst bewahrt sich auf diese idealistische Weise im Untergang die Freiheit,28 während den Realisten Wallenstein in tragischer Ironie (vgl. Kap. 8, Anm. 8) die gedungenen Häscher im Schlaf ereilen.
Der Erfolg des Wallenstein auf dem Weimarer Hoftheater und die Absicht, auch bei künftigen Proben eng mit Goethe zusammenzuarbeiten, veranlassten Schiller, mit seiner Familie von Jena nach Weimar zu ziehen. Ein halbes Jahr nach dem Umzug war die Tragödie Maria Stuart (1800) fertig. – Wieder ein historisches Drama, das »das Realistische zu idealisieren« sucht; doch diesmal nicht in chronologischer Entfaltung eines zur Trilogie ausufernden Stoffes, sondern analytisch29 und knapp, mit strengem tektonischen Aufbau:30
Der erste Akt zeigt Maria Stuart, die schöne schottische Königin, die, früh verwitwet, den Mörder ihres zweiten Gatten geheiratet hat und, vom Thron verjagt, nach England flüchtete, wo ihr als Thronrivalin Elisabeths im Kerker das Todesurteil droht. Mortimer, der Neffe ihres redlichen Bewachers, ein heimlicher Konvertit, möchte die katholische Königin befreien und ihr zur Macht verhelfen.
Der zweite Akt zeigt Elisabeth an der Seite ihres Geliebten Lord Leicester (sprich [’lestə]). Sie vertröstet eine Gesandtschaft des französischen Königs, der um ihre Hand anhält, und hört ihren Staatsrat zum Urteil über Maria Stuart. Danach beauftragt sie insgeheim den jungen Mortimer, das schlechtbegründete Todesurteil an Maria durch Meuchelmord zu vollstrecken. Mortimer erklärt sich zum Scheine bereit und verrät Elisabeths Anschlag und seine eigenen Pläne Lord Leicester, an den ihn Maria verwiesen hatte.
Der dritte Akt bringt mit der durch Lord Leicester herbeigeführten Begegnung der beiden Königinnen den Höhepunkt. Durch unbarmherzige Härte fordert Elisabeth Marias Stolz heraus. Statt zu Versöhnung kommt es zu wechselseitigen Beleidigungen, wobei Maria in tragischer Ironie über Elisabeth triumphiert.
Der vierte Akt zeigt Königin Elisabeths Ratlosigkeit. Mortimers und Leicesters Pläne zur Befreiung Marias sind entdeckt. Leicester rettet sich mit knapper Not, indem er den Mitverschworenen Mortimer verrät und für Marias Todesurteil plädiert. Elisabeth unterschreibt das Urteil, jedoch ohne den Sekretär, dem sie es übergibt, anzuweisen, wie er mit dem Blutbefehl verfahren soll.
Im letzten Akt erscheint Maria zu sittlicher Freiheit geläutert. Sie ist bereit, das unverdiente Todesurteil als Sühne für die Schuld am Tode ihres zweiten Gatten anzunehmen. Sie geht im äußeren Glanz ihrer Schönheit und mit der Würde ethischer Selbstüberwindung zum Schafott. Elisabeth, die zum Schein ihrer Unschuld jenen Sekretär, dem sie das Todesurteil überließ, bestraft, wird von ihrem einzigen getreuen Rat verlassen. Und als sie nach ihrem Geliebten fragt, heißt es: »Der Lord lässt sich / Entschuldigen, er ist zu Schiff nach Frankreich.«
In der »romantischen«31 Tragödie Die Jungfrau von Orleans (1801) steigert Schiller das historische Läuterungsdrama zur Legende; denn hier geht es nicht mehr nur um eine weltliche Sünderin, die sich sterbend zu majestätischer Würde erhebt, sondern um eine Heilige, die ihre Reinheit noch gegen die sanfte Regung der Liebe behauptet.
Jeanne d’Arc (historisch 1412–1431), die Tochter eines französischen Bauern, fühlt sich berufen, Frankreich im Hundertjährigen Krieg (1339–1453) gegen England zum Sieg zu verhelfen. Voraussetzung für die Erfüllung dieses übermenschlichen Auftrags ist jedoch, dass sie jeder persönlichen Neigung entsagt. – Johanna ist dazu bereit und siegt mit dem Schwert in der Hand, bis sie beim Anblick Lionels, den sie im Kampf überwunden hat, in einer Anwandlung von Liebe die Erfordernis ihrer himmlischen Sendung vergisst. Sie lässt den Feind entkommen, gerät darauf selbst in englische Gefangenschaft und wird bei ihren Landsleuten vom eigenen Vater der Hexerei bezichtigt. – Endlich sühnt sie die unerlaubte Rührung ihres Herzens durch den Opfertod für ihr Vaterland in einer letzten siegreichen Schlacht.
Da der Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung (vgl. Anm. 21) im wesentlichen innerseelisch bleibt, fehlt Johanna der eigentliche Gegenspieler. Die Bühnenwirksamkeit des Schauspiels beruht auf opernhaften Schlacht- und Krönungsszenen und auf der teils lyrisch, teils pathetisch überhöhenden Sprachgebung.
Das letzte von Schiller vollendete Schauspiel ist Wilhelm Tell (1804), ein äußerst beliebtes Stück, dessen philosophischer Kern oft durch volkstümliche Überbetonung der patriotischen Tendenz verdeckt worden ist. Denn das Wesentliche in diesem Kampf zwischen Tyrannei und Freiheit ist nicht zuerst der vaterländische Sieg, sondern, wie Werner Kohlschmidt sagt, »die sittliche Behauptung der Person im reißenden Strom der Geschichte«.
Der Habsburger König Albrecht beruft seine Parteigänger als Landvögte, um durch deren Willkürherrschaft die reichsunmittelbaren Schweizer Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden allmählich seiner Hausmacht zu unterwerfen. Angesichts der Verbrechen des Reichsvogts Geßler schließen sich führende Bürger zur Gegenwehr zusammen und schwören auf dem Rütli:
– Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
[…]
Bezähme jeder die gerechte Wut,
Und spare für das Ganze seine Rache,
Denn Raub begeht am allgemeinen Gut,
Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.
Tell, der unpolitische Einzelgänger, gehört nicht zu den Eidgenossen, denn er glaubt:
Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden. [Und:]
Der Starke ist am mächtigsten allein.
Er weigert sich, den zur Schau gestellten Hut des Landvogts zu grüßen, wird von Geßler zu dem berühmten Apfelschuss vom Kopf seines Sohnes gezwungen und anschließend verhaftet. Den Fesseln entsprungen, kommt er zu der Einsicht, dass der Tyrannenmord unumgänglich ist. Nicht in solidarischer, allenfalls in stellvertretender Handlung für das unterdrückte Volk erschießt Tell den Tyrannen. Vor dem ehrsüchtigen Kaisermörder Parricida rechtfertigt er diesen Schuss aus Notwehr nicht als vaterländische Tat, sondern als sittliche Forderung der Menschlichkeit (im Sinne Kants).32
7. Zwischen Klassik und Romantik (1794–1811)
Goethes Alterswerk, der zweite Teil des Faust, Wilhelm Meisters Wanderjahre und die späte Lyrik, gehen bereits über den engen Rahmen des formgeschichtlichen Begriffs ›Klassik‹ hinaus. Noch schwerer lassen sich die Werke von Johann Peter Hebel, Jean Paul, Hölderlin und Kleist diesem Stilbegriff unterordnen. Diese Dichter, die, bis auf Jean Paul, zeitlebens im Schatten Goethes und Schillers standen, folgten weder dem klassischen noch dem romantischen Programm, sondern entfalteten unter den verschiedenen Stileinflüssen ihrer Zeit je ganz persönliche Eigenheiten.
JOHANN PETER HEBEL (1760–1826), der mit seinen Alemannischen Gedichten (1803) erstmals mundartlicher Dichtung zu literarischer Geltung verhalf, sammelte seine Kalendergeschichten im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811) und lebt damit als volksnaher Meister epischer Kleinkunst fort.1 Weniger rührselig und etwas weltoffener als Claudius (vgl. Kap. 5b), war auch Hebel ein Idylliker, der erzählend die moralische Besserung seines Nächsten beabsichtigte und dabei wie Claudius auch nach 1789 vorrevolutionär apolitisch dachte.
Nicht zufällig schätzte Hebel den großen Erzähler JEAN PAUL (d. i. Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825), denn auch Jean Paul, den viele Zeitgenossen über Goethe stellten, wurzelte tief in der Empfindsamkeit (vgl. ↑) und hatte eine Vorliebe für merkwürdige Käuze und Sonderlinge, die das Glück im stillen Winkel zu genießen verstehen. Das Schulmeisterlein Wuz, Quintus Fixlein, der Armenadvokat Siebenkäs und Dr. Katzenberger sind solche Jean-Paulschen Romanhelden, die unter dem Einfluss englischer Romane des 18. Jahrhunderts (von Richardson, Fielding und vor allem Sterne) entstanden und dann ihrerseits auf die Erzähler