5. Sturm und Drang (1767–1785)
a) Das neue Menschenbild
Der Königsberger Philosoph Kant bestimmte den Begriff ›Aufklärung‹ (vgl. Kap. 4a), den Anstoß zur Entwicklung eines Gegenprogramms formulierte ein Königsberger, der sich selbst den »Magus im Norden« nannte: JOHANN GEORG HAMANN (1730–1788).
Nachdem Hamann in London eine überraschende religiöse Erweckung erfahren hatte, verteidigte er seine Wendung gegen die Vernunft der Aufklärer mit der Schrift Sokratische Denkwürdigkeiten (1759). Er verwies seine rationalistischen Freunde Kant und Berens an die schöpferischen Kräfte des Gefühls und des Gemüts, die er vor allem in der Sprache am Werk sah. In der Aesthetica in nuce (1762)1 verkündete er:
Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts. […] Sinne und Leidenschaften reden und verstehen nichts als Bilder.2 In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit. […] Die Natur würkt durch Sinne und Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der empfinden? […] Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen? – Damit ihr das Vergnügen erneuren könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden – […]. O eine Muse wie das Feuer eines Goldschmieds, und wie die Seife der Wäscher! – – Sie wird es wagen, den natürlichen Gebrauch der Sinne von dem unnatürlichen Gebrauch der Abstraktionen zu läutern […]. Ein Philosoph, wie Saul, stellt Mönchengesetze – – Leidenschaft allein gibt Abstraktionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; – Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge – – […] und wahrlich, wahrlich, Kinder müssen wir werden, wenn wir den Geist der Wahrheit empfahen sollen, den die Welt nicht fassen kann […].
Hamann, der mit solchen und ähnlichen Sätzen den Subjektivismus des Genies über den kritisch denkenden Kopf erhob, verdeutlichte seine Abkehr vom Rationalismus durch die »Schreibart der Leidenschaft«. Seine bruchstückhaften Schriften sind voller Gedankensprünge und schwerverständlicher Anspielungen. Sie setzen gegen die aufgeklärte Verstandeshelle dunkle Ahnung und ganzheitliches Fühlen.
Hamanns Freund und Schüler JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744–1803) griff die Idee von der schöpferischen Freiheit des Individuums auf. Gingen die Aufklärer davon aus, dass der Mensch im Grunde immer und überall das gleiche Vernunftwesen sei, so lehrte Herder, den Menschen als geschichtliches Wesen zu begreifen, für das die historisch-geographische Prägung ganz entscheidend ist. Geschichtlich bedingt ist also auch die Kunst des Menschen. Keinesfalls ist diese, wie die Aufklärer dachten, an feststehenden, zeitlosen Maßstäben irgendeiner normativen Regelpoetik zu messen, sondern ihr Verständnis verlangt geschichtliches Einfühlungsvermögen.
Herders Blick auf die Entwicklung des Menschen und der Kunst ließ ihn am Fortschrittsglauben der Aufklärer zweifeln. Gegenüber den zweckgerichteten, moralisch-lehrhaften Kunstwerken der Aufklärungszeit hatte die Vergangenheit Besseres zu bieten. Herder teilte Rousseaus Kulturpessimismus und forderte die Rückkehr zur Natürlichkeit volkstümlicher Dichtung und zur leidenschaftlichen Erlebnisdichtung des Genies3.
Unverfälschte Natürlichkeit fand Herder in schlichten gesungenen Liedern, die er sammelte und 1773 erstmals herausgab. Der von Herder dafür geprägte Begriff ›Volkslied‹ war sehr offen. Seine Sammlung Volkslieder (1778, seit 1807 unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern) enthält neben echten Volksliedern auch bloß volkstümliche Lieder und sogar Kunstlieder, in denen Herder naturpoetisch »wahren Ausdruck der Empfindung und der ganzen Seele« vernahm. Zu solchem Ausdruck fähig waren nach Herders Vorstellungen nicht nur das namenlose Volk, sondern auch die alten Barden4 und das unverbildete Genie. In der als Programmschrift des Sturm und Drang anzusehenden Aufsatzsammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) feiert Herder in Ossian5 den Barden und in Shakespeare die beispielhafte Verkörperung des Genies.
Nicht als Dichter, sondern als Denker, der dem deutschen Geistesleben vielfältige und weit über den Augenblick hinauswirkende Anregungen zu geben vermochte, gewann Herder bleibende literaturgeschichtliche Bedeutung.
b) Die Lyrik
Des Hügels Quell ertönet von Zeus,
Von Wodan, der Quell des Hains.
Weck’ ich aus dem alten Untergange Götter
Zu Gemälden des fabelhaften Liedes auf;
So haben die in Teutoniens Hain
Edlere Züge für mich!
Mich weilet dann der Achäer Hügel nicht:
Ich gehe zu dem Quell des Hains!
So sang KLOPSTOCK in der Ode »Der Hügel und der Hain« (1767). Die vaterländische Gesinnung, die Teutoniens Hain dem Hügel der griechischen Musen (dem Helikon) vorzieht, begeisterte eine Gruppe Göttinger Studenten, die sich 1772 unter dem Namen »Der Hain« zu einem Dichterbund zusammenschloss. Der Gründer und Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs war HEINRICH CHRISTIAN BOIE (1744–1806). JOHANN HEINRICH VOSS (1751–1826), der durch seine großartige Homer-Übersetzung berühmt wurde, war der Vereinsvorstand. Der frühverstorbene LUDWIG HEINRICH CHRISTOPH HÖLTY (1748–1776) trug zarte, melancholische Gedichte bei,6 und die gräflichen Brüder FRIEDRICH LEOPOLD und CHRISTIAN STOLBERG (1750–1819 und 1748–1821), die später im Werther-Kostüm mit Goethe in die Schweiz reisten, gaben dem Jugendbund gesellschaftliches Ansehen. Das hochgeschätzte Ehrenmitglied aber war der alte Klopstock selber. – Die Bundesmitglieder gaben einander Klopstocksche Bardennamen und priesen in ihrem Kraftgesang Freiheit, Ehre und Vaterland. Als frohsinnige, treuherzige Naturburschen pflegten sie einen tränenseligen Freundschaftskult und religiösen Tugendeifer nebst deutscher Sitte und Biederkeit. Freigeisterei und literarische Libertinage waren ihnen verhasst. Was Wunder, dass sie Wieland zu ihrem Sündenbock machten.
GOTTFRIED AUGUST BÜRGER (1747–1794) verbrachte nur kurze Zeit in Göttingen. Er bemühte sich, ein Volksdichter im Sinne Herders zu werden, und gewann durch Schöpfung der Kunstballade7 bleibende literarische Bedeutung. Sein sprachgewaltiges Paradebeispiel der neuen Gedichtform, die »Lenore«, erschien im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1774, einem Bändchen, das neben den besten Gedichten des Göttinger Hain auch Beiträge von Klopstock, Herder, Goethe und Claudius enthält.
MATTHIAS CLAUDIUS (1740–1815), der im ländlichen Wandsbek bei Hamburg mit einer kinderreichen Familie ein bescheidenes idyllisches Leben führte, gab seit 1771 den Wandsbecker Boten heraus. Seine gemütvollen, innig-religiösen Gedichte8 werden gerne mit Johann Peter Hebels Dichtungen verglichen (vgl. Kap. 7). Für einen richtigen Stürmer und Dränger dachte Claudius viel zu konservativ. Als überzeugter Lutheraner blieb er auch nach der Französischen Revolution von 1789 ein Untertan, dem alle Obrigkeit von Gott kommt.
Der zeitübliche Tyrannenhass, den Claudius im Norden vermissen ließ und der bei den Dichtern im mitteldeutschen Hain nur freiheitssüchtige Geste war, hatte im Süden sachliche Gründe: Anders als Friedrich der Große, welcher der erste Diener seines Staates sein wollte, verkaufte Herzog Karl Eugen seine württembergischen Landeskinder als Soldaten an die Kolonialmächte9 und duldete nicht den geringsten Widerspruch. CHRISTIAN FRIEDRICH DANIEL SCHUBART (1739–1791), der mit seiner freimütigen Zeitschrift Deutsche Chronik Karl Eugens Missfallen erregt hatte, wurde 1777 nach Württemberg gelockt und auf der Staatsfestung Hohenasperg eingekerkert. Sein zorniges Gedicht »Die Fürstengruft« (1780) brachte ihm eine siebenjährige Haftverlängerung.
Den vollendeten Ausdruck des Genies findet man in der Jugendlyrik JOHANN WOLFGANG GOETHES (1749–1832).10 Der Frankfurter Patriziersohn hatte sechzehnjährig bei den Leipziger Altmeistern Gottsched und Gellert zu studieren begonnen, war schwer erkrankt nach Frankfurt heimgekehrt und, wiederhergestellt, zur Fortsetzung seiner Studien nach Straßburg gegangen. Dort traf er im Herbst 1770 mit Herder zusammen.
Der um fünf