Das ist nur ein Beispiel von vielen, die ich hier erzählen könnte, das verdeutlicht: Gefühle zu zeigen gilt in unserer Gesellschaft als deplatziert. Es wird als ein Zeichen von Schwäche angesehen, wenn sich jemand nicht zusammenreißen kann, wie es so schön heißt. Schon kleine Kinder kriegen oft zu hören, dass »ja nichts passiert« sei, wenn sie einmal hinfallen. Oder: »Ist doch nicht so schlimm, hör auf zu weinen.« Ist dieser falsche Glaubenssatz einmal verinnerlicht, zieht das einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich. Denn: Was werden sie dabei lernen? Dass ihre Wahrnehmungen falsch sind, ihre Gefühle überschießend und fehl am Platz. Oder dass sie zumindest unangenehm für die Erwachsenen sind und sie sie deshalb lieber unterdrücken sollten. Auf diese Weise können bereits Kleinkinder das Vertrauen in sich selbst, ihre Emotionen und Intuition verlieren.
Spätestens seit ich selbst Vater bin, bin ich sehr aufmerksam, was solche Äußerungen angeht. Denn so gewöhnen sich Menschen von klein auf ab, ihre (ehrlichen) Regungen zu fühlen und der Außenwelt zu kommunizieren. Sie hören auf zu spüren und »verkopfen« sich. Sehr viele Erwachsene können mit ihren eigenen Gefühlen nichts anfangen, geschweige denn mit den Gefühlen anderer Menschen. Der Umgang damit fällt ihnen schwer, oft sogar schon die Wahrnehmung, das so genannte Einfühlen oder Hineinspüren. Das sehe ich immer wieder im Seminar- und Coaching-Setting. Und das ist die eigentliche Schwachstelle. Wer nicht auf andere eingehen kann, weil er deren Gefühle weder bemerkt noch versteht, tut sich schwer in der Zusammenarbeit. Und wer sich selber immer zurückhält und sich etwas verkneift, weil er negative Reaktionen befürchtet, wird irgendwann die Beherrschung verlieren. Meistens passiert das dann in unpassenden Situationen.
Schauen wir uns in der Berufswelt um. Besonders Frauen in Führungspositionen berichten mir häufig, dass sie zum Beispiel schon als hysterisch abgestempelt wurden, weil sie einmal emotional oder laut geworden sind. Wenn ein Mann sprichwörtlich »auf den Tisch haut«, gilt er zwar als Hitzkopf, kommt damit aber noch besser weg als seine Kollegin. Eine Frau darf nämlich nur aus den Eigenschaften schöpfen, die ihr von unserer Kultur zugedacht wurden, beispielsweise weich, lieb, ruhig, beherrscht und fürsorglich zu sein. Und wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er ehrgeizig, hart und emotionslos ist. Diese Wesenszüge werden ganz klar Männern zugeschrieben und sind bei ihnen allgemein akzeptiert. Bei einer zielstrebigen Frau würde dasselbe Verhalten als geltungssüchtig und egoistisch wahrgenommen werden. Zeigt sich ein Mann dagegen von seiner einfühlsamen, warmherzigen Seite, kann es ihm leicht passieren, dass er das Etikett »Weichei« aufgedrückt bekommt.
Unsere Gesellschaft hat Qualitäten wie Sensibilität, Mitgefühl und Herzlichkeit also in die Schublade »weiblich« gesteckt. Sie sind außerdem mit dem Stempel »minderwertig« versehen und für Männer daher mit Scham behaftet. »Männer weinen nicht«, ausgenommen natürlich bei einer Beerdigung, dort aber dann richtig, bitteschön! Bei Trauerfeiern wird in unseren Breiten erfahrungsgemäß ziemlich alles herausgelassen an Gefühlen, was sonst nirgends hinzupassen scheint: Kummer, Niedergeschlagenheit, Wut, Schwere, Leid, Angst und Leere, um nur einige zu nennen. Gefühle brauchen eben ein Ventil – egal ob bei Frau oder Mann.
Alle diese Eigenschaften sind natürlich weder männlich noch weiblich, sie sind menschlich. Und menschliche Gefühle haben kein Geschlecht. Wenn wir trotzdem daran glauben und uns danach verhalten, zementieren wir nicht nur die althergebrachten, stereotypen Geschlechterbilder weiter ein, sondern stehen uns auch noch permanent bei unserem eigenen Glück und Erfolg im Weg. Wer ist zur Rechenschaft zu ziehen? Wir alle, jeder Einzelne, in jeder Situation. Wir dürfen uns nicht darauf berufen, dass wir es nicht gelernt haben, keine guten Vorbilder hatten oder haben. Es wird uns aber nicht leicht gemacht. Weil Emotionen wahrzunehmen und danach zu handeln für unsere Gesellschaft zu den größten Bedrohungen gehören. Der Status quo in unseren Firmen, Beziehungen und in der Welt kann nur erhalten werden, indem gewisse Gefühle wie Empathie und Liebens-würdigkeit gesamtgesellschaftlich geringgeschätzt werden. Die Abwertung von Gefühlen hat also nur ein einziges Ziel: den Systemerhalt.
Das ganze Spektrum an Gefühlen zu fühlen und unsere Entscheidungen und unser Verhalten danach zu richten, ist keine Schwachstelle. Es ist Menschlichkeit und in Wahrheit unsere Stärke! Nebenbei bemerkt die einzige, die uns im weiteren Verlauf des digitalen Zeitalters von Robotern unterscheiden und einen Vorteil verschaffen wird können. Schon heute sollen sich Menschen am besten nach einem bestimmten Muster verhalten, damit Abläufe wie gewohnt funktionieren und festgefahrene Systeme, Macht- oder Ressourcenverteilungen ja nicht in Frage gestellt werden. Man nennt das auch Kontrolle. Erstaunlicherweise fühlen sich viele in so einem System wohl und sicher. Ich nicht.
1.4 Selbstsicherheit ist tot, Kontrolle ist besser
In den vergangenen vier Jahren bin ich oft mehrmals wöchentlich auf Kinderspielplätzen unterwegs gewesen. Als Vater eines motorisch geschickten Kleinkindes war ich dabei meistens nur als Partner beim Versteckspiel oder für das Zeitnehmen beim Wettrennen gefragt. In der restlichen Zeit habe ich als stiller Beobachter aber einiges mitbekommen, was mir sonst wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre: Eltern kontrollieren ihre Kinder. Sie kontrollieren alles. Es fängt harmlos an mit Vorschlägen, welche Dinge sie tun und welche Spiele sie spielen könnten. Als ob Kindern das nicht von selbst einfallen würde. Gefolgt von Anweisungen, was sie besser nicht tun, und wo sie auf gar keinen Fall hingehen dürfen. »Keinen Sand auf die Schuhe, Schatzi!« »Die Rutsche ist aber noch zu hoch für dich.« »Nicht in den Wald laufen, ist das klar?« Wie hoch sie klettern dürfen. Welches Bein zuerst kommt. Was man in der Sandkiste macht. Ernsthaft, ich habe ambitionierte Eltern gesehen, die den eigenen Kindern die Schaufel wegnehmen, um ihnen zu zeigen, wie ein »richtiger« Sandkuchen geht. Am Ende der Skala standen dann die Vorwürfe, Drohungen und Verbote, die mir als erwachsenem Mann noch in den Ohren wehtun. »Jetzt habe ich es dir schon fünf Mal gesagt.« »Wenn du damit nicht aufhörst, gehen wir sofort heim!« »Morgen gibt es für dich keine Süßigkeiten.«
Wieso? Wieso meinen diese Eltern, ihre Kinder bräuchten alle diese Vorgaben und Maßregelungen? Oder brauchen sie am Ende gar nicht die Kinder, sondern vielmehr ihre Eltern? Wenn ja, warum ist das so? Ich habe mir diese Fragen nicht nur einmal gestellt und versuche sie hier zu beantworten. Dabei greife ich nicht nur auf mein Wissen als junger Vater, sondern auf meine Erfahrung als Berater und Trainer in Unternehmen zurück – das bin ich zum Glück ja schon ein bisschen länger. Da gibt es nämlich gewisse Parallelen. Achtung, Spoiler: Die Eltern verhalten sich wie die Führungskräfte in den Firmen, in denen sie vor dem Spielplatzbesuch waren.
Das Thema, das sie gemeinsam haben, ist Angst. Es könnte ja etwas passieren: Das Kind könnte schmutzig oder nass werden. Das Kind könnte sich wehtun oder etwas anstellen. Das Kind könnte aus Langeweile andere Kinder ärgern. Das Kind könnte durch sein Verhalten die Eltern bloßstellen. Oder aber: Die Verkaufszahlen könnten zurückgehen. Ein Projekt könnte nicht rechtzeitig fertig werden. Der Folgeauftrag könnte wackeln. Ein unmotivierter Mitarbeiter könnte die Stimmung im Team stören. Der Chef könnte sich beschweren. Die Ergebnisse könnten nicht stimmen.
Konkret geht es also um die Angst vor Kontrollverlust und einem Verlangen nach Sicherheit. Kontrolle beruht auf dem psychologischen Konzept, dass das eigene Handeln und dessen Folgen vorhersehbar zusammenhängen. Sobald andere Menschen und Faktoren ins Spiel kommen, ist der Zusammenhang für viele nicht mehr in ausreichendem Maß vorhanden. Sie glauben dann, dass sie sich absichern können, indem sie alles genau und sorgfältig kontrollieren: »Sicher ist sicher, und ich setze noch eins drauf.« Aber Kontrolle gibt keine Sicherheit, nur den Anschein davon. Allerhöchstens ist es eine temporäre Sicherheit, die so lange andauert wie die Kontrolle selbst und aufhört, sobald sie wegfällt. Nun könnte man permanent alles kontrollieren – was de facto nicht geht, so landen wir in der Psychiatrie. Besser man setzt auf eine andere Qualität: Selbstsicherheit.
Damit