1.2 Vertrau keinem, glaube an die Wissenschaft
Die Floskel Wissen ist Macht stammt aus dem 16. Jahrhundert. In der ursprünglichen Version der Redewendung war noch nicht von Wissen, sondern von der Wissenschaft die Rede. Mit der Wissenschaft stehe ich bekanntermaßen auf Kriegsfuß. Obwohl ich mein Studium abgeschlossen habe, habe ich keine akademische Feier genossen. Auf meine damalige Frage hin, ob ich das machen muss, wurde mir versichert, »Es wäre schön, aber den Abschluss bekommen Sie sowieso«. Ich habe also im Anschluss an mein Studium und ganz bewusst auf die offizielle Verleihung des Magistertitels und den Schwur auf die Wissenschaft verzichtet.
Ich hätte versprechen sollen, ihr zu dienen, ihre Ziele zu fördern und dadurch verantwortlich zur Lösung der Probleme unserer Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung beizutragen. Ich wollte aber nicht der Wissenschaft dienen, sondern den Menschen. Nicht die Ziele der Wissenschaft fördern, sondern meine eigenen sowie diejenigen anderer Menschen. Und ich wollte nicht wissenschaftlich irgendwelche Probleme lösen, sondern faktisch. Das verstehe ich unter einem verantwortungsvollen Beitrag zur Gesellschaft und echter Weiterentwicklung.
Dass das mit der Definition von Wissenschaft nicht übereinstimmt, ist wirklich schade. Weil die meisten Menschen darauf vertrauen. Oft sogar mehr als sich selbst. Das erkennt man daran, dass Leute, die einen wichtigen Punkt machen möchten, den Satz anfangen mit: »Also, da gibt es eine Studie (…).« Oder: »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass (…).« Das Gegenüber erstarrt sekündlich und es ist fast unmöglich, dem irgendetwas zu entgegnen. Wissenschaftlich erwiesen – diese zwei Wörter setzen so ziemlich alles außer Kraft, was in uns Menschen vorhanden und für uns selbst nachvollziehbar ist: Erfahrungen, Gefühle, Ängste, erworbenes (Anwender-)Wissen und andere Wahrnehmun-gen etc.
Die Wissenschaft hat sicherlich immens viel für die Menschen getan und tut es immer noch. Aber sie zum ausschließlichen Maß aller Dinge zu machen, halte ich für gefährlich. Warum? Weil die Wissenschaft nichts anderes ist als ein System von streng geprüften Erkenntnissen, die objektiv gelten, weil sie so gehäuft auftreten. Ich identifiziere also ein Problem, schaffe ein experimentelles Setting, stelle eine Frage und versuche sie möglichst zweifelsfrei und nachprüfbar zu beantworten. Das ist wissenschaftlich. Wenn ein Sachverhalt in so einem Setting zum Beispiel bei hundert Menschen beobachtet wurde und bei achtzig trat ein bestimmtes Verhalten auf, dann gilt es nach wissenschaftlichen Kriterien als erwiesen. Das heißt, jeder ernsthafte Versuch, eine »überpersönliche« Lösung zu finden, gilt als wissenschaftlich. Die persönliche Wahrnehmung von Einzelnen ist im Gegensatz dazu keine Wissenschaft und verliert zunehmend an Bedeutung.
Genau da ist der Haken: Mich haben immer die restlichen zwanzig Prozent interessiert, bei denen die wissenschaftlich aufgestellte Hypothese nicht eingetroffen ist. Das war doch viel spannender! Diejenigen, die ein erwartbares Verhalten nicht gesetzt haben, die die gestellte Frage anders beantwortet haben als der Rest. Wahrscheinlich bin ich genau deswegen Persönlichkeitsentwickler geworden, weil die einzigartigen, höchstpersönlichen Anschauungen und Eindrücke so viel mehr hergeben als der objektivierte Einheitsbrei. Natürlich kümmert sich die Wissenschaft in Form von qualitativen Untersuchungen auch darum. Diese Ergebnisse sind aber individuell und können nicht verallgemeinert werden. Deswegen gehen sie meistens unter. Sie sind schlicht und ergreifend irrelevant für den Lauf der Welt. Und so fühlen sich dann die dahinterstehenden Menschen mit ihren Wahrnehmungen, Erfahrungen und Meinungen unbedeutend, belanglos, unwichtig und klein. Ein Dilemma!
In einer Zeit, in der uns der Zugang zu Wissen(-schaft) so leicht gemacht wird wie nie zuvor in der Weltgeschichte, glauben viele, es gäbe sie: die eine Wahrheit. Und suchen sie überall – nur ganz sicher nicht bei sich. Dabei gibt es so viele Wahrheiten wie Menschen auf der Erde herumlaufen. Und alle, ausnahmslos alle, haben ihre Berechtigung. Sie haben recht. Sie sind richtig. Für diejenige oder denjenigen, aus dessen Wahrnehmung sie entsprungen sind. Nur nehmen das viele Menschen leider nicht so wahr. Es ist auch kein Wunder, denn mit einer »Mindermeinung« gegen die Masse anzutreten, dafür braucht es schon Schneid.
In meinem bisherigen Leben hatte ich mehr als nur einmal das Vergnügen. Eigentlich gehöre ich immer schon zur Gruppe der Außenseiter, es stört mich aber – im Gegensatz zu vielen anderen Menschen – nicht im Geringsten. Ich habe kein Problem damit, eine Außenseitermeinung zu vertreten. Ich beziehe sogar ganz oft eine Position, die nicht dem mehrheitlich gewählten Standpunkt entspricht. Man mag mir unterstellen, dass ich ein Rebell bin. Das kann sein, eines bin ich aber mit Sicherheit: voller Selbstvertrauen. Ich fühle mich nicht abgewertet, nur weil die meisten anderen Leute meine Einstellung und Anschauungen nicht teilen. Eher umgekehrt, es bestätigt mich sogar.
Zu Beginn meiner Selbstständigkeit habe ich oft in Konkurrenz mit anderen Beratern und Trainern gestanden. Wir wurden von den potenziellen Kunden aufgefordert, »blind«, das heißt, ohne persönliches Vorgespräch und weitere Kenntnis der Umstände, ein Angebot für ein bestimmtes Thema zu erstellen, das dann von irgendwelchen Assistenten ausgedruckt und verglichen wurde. Herausgekommen ist fast immer dasselbe: In diesen Firmen galten die Konzepte von Beratern als die erste Wahl, die wissenschaftlich begründet, methodisch »durchgetaktet« und mit einem Preisschild versehen waren. Ich lieferte ihnen weder/noch. Ich kam selber, stellte (unbequeme) Fragen und fuhr wieder. Meistens bekam ich die Möglichkeit zu einem weiteren Termin, und bei diesem dann die Zusage für das Projekt.
Ich musste nur zusehen, dass ich schneller war als die anderen mit ihren ausgeklügelten Konzepten. Denn die Wunschkriterien erfüllte ich fast nie. Ich war nicht vergleichbar und wollte es auch gar nicht sein. Weil es nichts bringt. In meinem ersten Buch Best Seller – Von falschen Propheten im Verkauf und wie Verkaufen richtig geht habe ich das schon näher beschrieben:
»Wer glaubt, er sei vergleichbar, hat (…) langfristig keine Chance. (…) Man kann durchaus mitschwimmen, auch hat man hier und da die Möglichkeit, ein Geschäft zu machen. Aber wirklicher Erfolg geht so nicht. Erfolg ist Einstellungssache.« 1
Wenn ich nun daherkomme und rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, halten mich die meisten zunächst für einen Sonderling. Ist das Seminar, Coaching oder Projekt aber erst angelaufen, stimmen sie mir auf einmal zu, weil meine Ideen, Inhalte und Methoden aus Erfahrung und von Herzen kommen. Aber das dauert halt immer, bis es so weit ist. Das muss man auch aushalten können, diese Spannung im Raum, die insgeheim raunt: »Was weiß denn der schon? Hat er überhaupt Belege dafür?« Ich kann das ganz gut verkraften. Keine meiner Veranstaltungen musste ich je mit einer wissenschaftlichen Beweisführung einleiten oder eine Situation damit »retten«.
Die Reaktion der Teilnehmer ist der beste Beweis dafür, dass meine Einstellung und meine Wahrnehmung »wahr« sind, sprich, wahrnehmbar, annehmbar und nutzbar für die anderen. Und das funktioniert, weil und solange ich mir selbst vertraue. Denn dann vertrauen die anderen mir auch. Sie befürchten nicht, in die Irre geführt zu werden. Sie haben keine Angst, fehlgeleitet zu werden durch ein Wissen, das ihnen nicht nützlich, womöglich sogar hinderlich ist in ihren Beziehungen, ihrer Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen oder auf ihrem eigenen Weg. Weil sie womöglich zu den zwanzig Prozent gehören, die anders denken, fühlen und handeln als die wissenschaftliche Norm.
Das Wissen, das ich vermittle, ist mutmaßlich nicht wissenschaftlich. Es ist in den allermeisten Fällen höchst persönlich, selbst erprobt und für gut befunden. Es ist Anwendungs- und Erfahrungswissen. Es schafft aber mehr als Wissen-schaf(f)t: Es verschafft mir das Vertrauen der Menschen, mit denen ich arbeite, lebe und mich umgebe. Also, fangen wir bitte endlich an, aus dem Herzen zu denken, zu sprechen und zu handeln, anstatt uns primär auf objektive Maßstäbe zu berufen, die wenig bis gar nichts mit unserer subjektiven Wirklichkeit zu tun haben!
1.3 Gefühle – die vermeintliche Schwachstelle
Zeig! Keine! Gefühle! In meiner Zeit beim österreichischen