„Du sprichst in der Vergangenheit. Ist es denn jetzt anders?“, fragte Harry aufhorchend nach.
„Ja. Nachdem Lindsay den Herzinfarkt erlitt, muss sich irgendein Schalter bei ihm umgelegt haben: Eines Abends saß er in der Küche und war wie ausgewechselt; so wie vor dem Motoradunfall meiner Mutter vor zehn Jahren. Erst bin ich dem ja skeptisch entgegengetreten. Aber bis heute hat er kein Glas Alkohol mehr angerührt; nicht einmal sein Feierabendbier trinkt er mehr. Und er kümmert sich rührend um meine Mum und auch um mich. Vor allem lässt er mir jetzt mehr Freiraum und ich stehe nicht mehr ganz so unter seinem Kontrollzwang.“
„Das freut mich zu hören. Hast Du deswegen Deine Haare wachsen lassen und sie braun gefärbt?“, fragte Harry.
Isabel musste schmunzeln. „Nein, das hatte ursprünglich einen anderen Grund: Alexander, Anabels Bruder …“
„Alexander, ist das der junge Mann, der heute mit Dir Gitarre gespielt hat?“, unterbrach Harry Isabel wieder einmal.
Sie nickte und erzählte weiter: „Alex hat eine Band, die Bax’ Toys, und Anabel ist die Sängerin. Vor kurzem fand ein Band-Wettbewerb statt und Alex’ Band hatte dazu eine Teilnahmebestätigung. Allerdings lag zu diesem Zeitpunkt Anabel mit einer Bronchitis, die sich anschließend zu einer Lungenentzündung verschlimmerte, im Bett. Ich bot mich an, Anabel zu vertreten. Damit dies jedoch nach außen hin nicht auffiel, ließ ich mir meine bereits stark gewachsenen Haare noch etwas länger wachsen. So sah ich Anabel noch ähnlicher“, erklärte Isabel gänzlich ruhig.
„Und da Anabel braune Haare hat, hast Du Dir dann Deine Haare umgefärbt, verstehe“, schlussfolgerte Harry.
„Das ist nur eine Intensivtönung; die wäscht sich mit der Zeit wieder heraus! Etwas anderem hätte mein Vater auch nicht zugestimmt und ich wollte nicht gleich wieder unser gutes Verhältnis zerstören.“
„Und wie sieht es mit unserem Verhältnis aus?“, wagte sich Harry zu fragen.
„Mein Dad wird weiterhin nichts von unserer Liaison erfahren.“
Harry musste breit grinsen. „Das meinte ich zwar gerade nicht, aber Du hast mir damit trotzdem meine Frage beantwortet.“ Isabel sah irritiert zu Harry herüber. „Es ist schön zu hören, dass Du unserer Beziehung eine zweite Chance gibst“, erklärte Harry.
Isabel wurde prompt rot und sah betreten nach unten. „Es tut mir leid, dass ich, statt mich Dir anzuvertrauen, vor allem davongerannt bin und Dich allein im Regen stehen lassen habe. Das war nicht fair. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen?!“, flüsterte Isabel und sah vorsichtig wieder zu Harry herüber.
Harry lächelte sie verschmitzt an und haute einfach mit einem Schulterzucken heraus: „Hey, ich warte im Regen und steh auf Dich!“ Isabel verstand nicht gleich und sah Harry irritiert ins Gesicht. Harry sah ihr derweil tief in die Augen und in seinem Blick lag so viel Liebe, dass Isabel prompt Schmetterlinge im Bauch bekam. Vorsichtig näherte sich Harry ihrem Gesicht und zärtlich fanden sich seine Lippen auf ihren wieder. Noch einmal und noch einmal. „Oh Bell, ich habe Dich so vermisst!“, hauchte Harry.
„Ich Dich doch auch!“, wisperte Isabel. Abermals sammelten sich Tränen in ihren Augen.
„Psssst. Nicht weinen, ich bin ja jetzt da! Alles wird wieder gut.“
„Alles?“, fragte Isabel, obwohl sie genau wusste, dass eines sie ihr Leben nicht wieder loslassen würde.
Harry seufzte. „Weißt Du, Isabel, Jane hat da ihre ganz eigene Theorie: Sie ist der Ansicht, dass es einen guten Grund gab, weshalb unser Kind nicht leben durfte. Vielleicht war irgendetwas nicht in Ordnung und der Embryo war nicht lebensfähig oder eben Deine Gesundheit war in Gefahr? Nur der liebe Gott weiß, warum, wieso, weshalb wir jetzt nicht Eltern werden sollten. Aber wenn man das Ganze aus dieser Perspektive sieht, ist es einfacher mit dem Schmerz klarzukommen.“
„Mir persönlich ist die schlichte Erklärung des Arztes lieber: Dass ein natürlicher Abbruch in den ersten drei Monaten recht häufig vorkommt; die meisten wissen dabei noch nicht einmal, dass sie überhaupt empfangen haben. Ich habe es aber leider schon gewusst …“
„Als Du erfahren hast, dass Du Mutter werden wirst. Was ging da in Dir vor: Hast Du Dich darauf gefreut oder hattest Du eher Angst und hast mir deshalb nichts davon sagen wollen?“, fragte Harry direkt.
Isabel atmete kurz tief durch und erklärte dann: „Erst war ich etwas durch den Wind, aber im Grunde habe ich mich gefreut. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie oder ob ich Dir das überhaupt sagen sollte. Deshalb hast Du damals diese etwas verwirrende SMS bekommen. Ich brauchte einfach ein wenig Zeit, um das Ganze überhaupt zu begreifen. Nicht einmal meine Eltern wissen etwas davon und so wird es auch bleiben! Aber da ich irgendwann mit der Wahrheit herausrücken musste, wollte ich es Dir an dem Wochenende nach dem nächsten Termin mitteilen. Zusammen mit dem ersten Ultraschallbild von unserem Kind. Aber dazu kam es dann leider nicht mehr …“
Harry überkam sogleich eine eisige Gänsehaut, was auch nicht vor Isabel verborgen blieb. Diesmal war sie es, die Harry in den Arm nahm. Am Ende lagen beide mit verheulten Augen auf Isabels Bett. Isabels Kopf lag auf Harrys linkem Arm und beide schauten gedankenversunken zu dem naiv dreinblickenden kleinen, dicken Engel auf seiner Schäfchenwolke.
„Darf ich Dich etwas fragen?“, stellte Isabel wieder einmal ihre berühmt berüchtigte Einleitungsfrage. Harry schmunzelte und nickte. „Musstest Du im vergangenen Monat wieder auf einen Auslandseinsatz oder hast Du Dich freiwillig gemeldet?“
Harry stutzte. „Woher weißt Du davon???“
Isabel wurde sogleich rot und räusperte sich. „Von Jane. Wir hatten uns an dem Abend bei dem Band-Wettbewerb im Club getroffen und uns eben auch unterhalten.“
„Schön, dass Jane so redselig ist; nur mir hat sie verschwiegen, dass ihr aufeinandergetroffen seid“, brummte Harry.
„Nun ja, ich war diejenige, die um ihre Verschwiegenheit bat“, gestand Isabel. „Ich war der Ansicht, dass es besser wäre, wenn wir uns nie wieder sehen würden. Als ich jedoch erfuhr, dass Du wieder einmal dort unten warst, da traf es mich wie ein Messerstich mitten ins Herz.“
„Weil Du mich noch immer geliebt hast?!“
„Nein, weil ich Dich noch immer liebe; das ist mir jetzt klar! Deshalb überkam mich ja vorhin auch diese Panik, dass mein Entschluss, unsere Beziehung für immer zu beenden, der größte Fehler meines Lebens sein könnte. Zumal mir da noch so viel Unausgesprochenes auf der Seele brennt.“
„Aber das müssen wir nicht alles heute klären, oder?“, warf Harry besorgt in den Raum.
Isabel musste unweigerlich kichern und schüttelte den Kopf. „Beantwortest Du mir trotzdem noch meine Frage?“
„Ja, ich hatte einen Antrag gestellt“, sagte Harry wahrheitsgemäß.
Sofort setzte sich Isabel stocksteif auf und starrte geschockt zu ihrem Freund herunter.
Harry seufzte und setzte sich ebenfalls auf. „Ich musste einfach raus, versuchen, den Kopf frei zu kriegen. Denn ich gab mir die Schuld daran, dass ich meine letzte Chance, wieder näher an Dich heranzukommen, mit dem Schlag in Deines Vaters Gesicht verspielt hatte. Das fraß mich auf und ich konnte nichts mehr mit mir anfangen. Doch bevor ich irgendeinen Blödsinn anstellen konnte, habe ich meinen Vorgesetzten gebeten, mich wieder nach Helmand zu entlassen.“
„Und da keiner weiß, was beim letzten Mal tatsächlich passiert ist, hat er Deinem Antrag stattgegeben“, schlussfolgerte Isabel.
„Nein.“
„Nein?“
„Nein. Mein Vorgesetzter hat den Antrag abgelehnt. Er hatte mitbekommen, dass ich in letzter Zeit nicht ganz Ich selbst war und vor irgendetwas davonlief. Ich bin auf anderem Wege nach Afghanistan gekommen.“
„Und