9. 10. [1943]
In Granville mit Schwester3 Irmgard große Tauschgeschäfte zugunsten der Lieben zu Hause abgeschlossen. (19 kg Butter, 10 kg Leberwurst). Es ist so nett mit ihr dieser Handel, denn im Grunde ist sie genau so uneigennützig wie ich selbst dabei. Wir führen uns als große Geschäftsleute auf und der Handel sind doch nur Liebesgaben.
Da kein Dampfer nach Jersey fährt, Autofahrt nach St. Malo. Wieder herrlicher duftiger Herbsttag. Nur Auto fährt zu schnell. Es gibt viel zu viel zu schauen. Es liegt zu viel Poesie ringsum bereit und die verträgt kein rasendes Fahren. An der Küste gegen Cancale4 entlang blüht der freie Meerboden rot, weit draußen stürmt das Meer an. Herrliche Farben. Das Auto rast. Wie möchte ich gern hier halten und die Farben näher betrachten. Vielleicht ist der Meerboden immer so rot. Es sind die Farben von Frankreich, blaues Meer, weiße Brandungswellen und roter Strand.
In Malo steigen ein paar hundert junge Rekruten auf das Schiff. Es ist ihre erste Fahrt. Ich denke daran, wie schwärmerisch u. begeistert ich [3] gewesen wäre und finde nur wenig in ihnen. Manche freilich saßen die ganze kühle Mondnacht auf der Aussichtsbank und sie mögen in ihrem jungen Herzen wohl manches Gefühlvolle zur Heimat zurückgeschickt haben. – Wir liegen bis zum Eintritt völliger Dunkelheit auf Reede mit dem herrlichen Anblick des Hafengolfs, der in seinem interessanten Aufbau, der befestigten alten Stadt in Insellage, der Hafen, der Flußmündung, der reich bebauten Villenufer und der vorgelagerten kleinen Felseninseln an die Reihe französischer Meister aus dem 18. Jahrhundert erinnert.5 Es müßten nur unsre grauen Dampfschiffe Segelschiffe sein. Die Überfahrt im Mondlicht ist wunderschön. Unser Schiff fuhr schnell (12 Seemeilen). Es treibt majestätisch durch das glitzernde ungewisse Mondlicht über dem Meer. Ein bescheidener General ohne jede Begleitung ist an Bord. Er hat den sympathischen Zug nach unbedingtem Alleinsein und hinkt mit seinem Holzbein einsam am Oberdeck hin u. her. Er hat sich jeden Empfang verboten. Ich erfahre, daß es niemand [4] weniger als unser kommandierender General Marx vom Korps6 ist. (Spätere Bem. 31. 8. Marx am Anfang der Invasion gefallen.)
Wache vor der Platzkommandantur
10. 10. [1943]
Empfang der Kameraden sehr herzlich. Welch friedlicher Ort hier. Alles geht seinen gemütlichen Lauf. Die Post aus aller Richtung der Heimat ist viel trüber.7 Zu Hause nicht hier ist Front. Ich sehe und beurteile manche Menschen wieder neu und plastischer. Welch junges Kind ist doch Schwester Marie8. Zweifellos wechselt Reifsein oder es vollzieht sich schwingungsartig. Eine weite Reise bringt einen weiter, langes Bleiben dagegen an einem Ort bringt zurück.
Max Barthel9 schickt mir ein Buch von sich von erstaunlicher Kindlichkeit. Sein Erfolg liegt nur im einfachen Lied. Ein Liedersänger kann keine Novelle schreiben. Zur Novelle gehört eine anderer ich möchte fast sagen völlig [unleserlich] mondäner Mensch. Wie werde ich es ihm danken!
Nachmittags zum Tee bei Casper10. Wir reden immer ein bisl zuviel gescheite Sachen über Bücher, Politik, dienstliche Dinge, die seelischen Spalten zwischen diesen gewaltigen Schichtungen bleiben zu sehr ver- [5] schlossen, nicht weil er sie nicht hätte, sondern weil er wohl ein zu norddeutscher Mensch ist, der sich und damit unwillkürlich auch andere zu viel verschließt u. verbietet, weil auch irgendwie die schöpferische treibende vulkanische Macht zu wenig stark ist, um das warme Innere dabei durchkommen zu lassen. Trotzdem alles nett und anregend war, gehe ich mit dem erleichterten Gefühl, etwas abgesessen zu haben.
11. 10. [1943]
Der Tag war grau in grau ohne Wind. Das Wetter überlegt sich, was es werden soll und vielleicht hat es noch schöne sonnige Nachherbsttage im grauen Sack.
Unser Hausgenosse Kriegsgerichtsrat v. [Treskow] ist ein geradezu hassender Pessimist. Alle Dinge wenden sich bei ihm zu einer verfolgerischen bösen Art. Sein türkensäbelkrummer scharfer Mund steht gefährlich unter den stechenden Augen, von denen das eine ein blindes Glasauge ist. Vielleicht kommt ihm die bittere Art, alles anzusehen, vom einen Auge. Mit zweien sieht man allemal mehr hinter die [6] Dinge. Ist es doch ein physiognomisches Gesetz11, daß weitauseinanderstehende Augen Fantasie bedeuten. Pessimismus ist aber eine Art von Flachheit und zwar die Schlimmste. (»Und trank sich Hass aus einem Meer von Liebe.«)
Die hinter mir liegende Reise hat mir eine große Aufmunterung gebracht. Ich arbeite froher, zupackender und ich beteilige mich an allen Reden frischer. Auch die Sphäre der Gewohnheit liegt dünner um mich herum. Ich sehe die Zeit hier als eine gestreckte Frist, die es noch glücklich auszunützen gilt. Es folgen schwere Zeiten. Heute fühlte ich fast sinnlich ihr unheimliches Herannahen. Es kam nur die Nachricht durch, daß sämtliche Schwestern die Inseln verlassen müßten. Ist das der Vorakt einer Räumung? Wann naht unsre Zeit? Ein Ende wird hier ja alles nehmen. Wie viele sah ich schon scheiden. Das erst- [7] malige Dunkel in meinem Büro, in dem nur die Schreibtischfläche hell beleuchtet strahlt, war mir so ungewohnt und machte mich unruhig.12 Ich ging auf u. ab, packte zuletzt nichts mehr an. Der helle Schreibtisch im Dunkel rings war mir wie das bisschen erleuchtete Gegenwart im Dunkel der Zukunft ringsum. Ein französischer Sender brachte hübsche Chansons und ich war froh, ihnen lauschen zu können.
Beim Abendessen viel zu langes Sitzen und ein Ereifern über das Gespräch, ob wir die Engländer zu mild behandelten13, wobei wir die Gegner, die ja alle nicht in unsere Reihen sitzen, leicht abfertigten.
Ich habe mir 3 Bücher gekauft: Von Jakob Burkhardt die Kulturgeschichte Griechenlands14. Ich liebe die freie Persönlichkeit dieses Mannes, von dem jemand schrieb, daß er vielleicht als letzter unabhängig lebte. »Seht [8] ihn nur an, niemand war er Untertan.«15 Ein zweites Buch von Macdonald: Selbstbildnis eines Gentleman.16 Und ein drittes von Manfred Hausmann: Salut gen Himmel.17 Ich habe für Monate zu lesen und meine Büchermenge geht weit über alles Soldatengepäck. Es werden nicht weniger als 60 Bücher schon wieder um mich sich angesammelt haben. Wie der Oberst18 dauernd daran leidet in der Furcht zu dick zu werden, so plagt mich bei jedem Buch die Sorge wohin damit, denn ich will sie alle lesen.
Die Frontbuchhandlung in der King Street, St. Helier, Jersey (Aus: von Aufseß, Ein Bilderbogen von den Kanalinseln)
12. 10. [1943]
Mit Dr. Auerbach19 den Abend verbracht. Ein ausgezeichnetes »intelligibles«20 Verstehen. Keiner langweilt den anderen. Alles bleibt in starker gegenseitiger Korrespondenz lebendig. Später kam Dr. Caspar dazu. Er war nicht geladen, kam aber, weil die Nachricht vom Tod seines Bruders ihn an diesem Tag schwer getroffen hatte. [9]
Er lief weinend bei Empfang der Nachricht im Büro auf u. ab und wir waren fast beängstigt, er könnte in seiner rasch entschlossenen Art sich etwas antun. Die Überredung, daß er doch heimfahren solle, hat ihn am besten abgelenkt. Als er in unseren kleinen gemütlichen Kreis um den Kamin saß, vergaß er alles für Augenblicke und strahlte manchmal wie an seinen vergnügtesten Tagen. Ich glaube, wenn ein Schmerz auf eine gereifte und harmonisch gebildete Seele trifft, so beschlägt sie sich so vollkommen, daß ein so rasches Vergessen aber auch ein so deutlich sichtbarer Schmerz nicht möglich ist. –
Ich liebe ein wenig die Schwester Marie v. Wedel. Eigentlich habe ich mich über sie geärgert, weil sie beim Wiedersehen nach 3 [10] Wochen so ungeschickt und fast albern war. Aber es waren andere dabei und so war ja alles nur Geniertheit. Unmöglich hätte sie vor anderen auch nur für den Kartengruß danken