Wie wunderbar etwa Kurt Böwe als Intendant des Theaters eine seiner Rolle entsprechende Diktion und Umgangsweise der Zeit trifft und dabei doch eine ganz eigene Figur schafft, mag manchem heute vielleicht nicht mehr sonderlich auffallen (zu Unrecht!), wie gut es aber fast 30 Jahre später auch Axel Prahl in seiner Rolle eines Stasi-Offiziers in GUNDERMANN gelingt, den patriarchalen und zugleich kumpelhaft anbiedernden Gestus zu treffen, der in der Funktionärssphäre herrschte, und dabei mit einer subtilen Verschiebung gleichzeitig verblüffend an das inzwischen durch seine TATORT-Rolle weithin bekannte ›Prahl-Image‹ anzuknüpfen, das fällt auf.
Solche aus Beobachtung resultierende Genauigkeit, wie die des sozialen Habitus der Figuren, prägt viele andere Aspekte des Kinos von Andreas Dresen. Sie reicht bis ins Dekor hinein. So passt, um bei Prahls Auftritt zu bleiben, etwa die Ausstattung des Wohnzimmers seines Ex-Stasi-Offiziers ebenso präzise zu dieser Figur im damaligen historischen Moment wie die Art, mit der er seinen Gast mit dem rituellen Schnaps einzugemeinden versucht. Selbstverständlich spitzt Dresen bei der Figurenzeichnung zu und manch komödiantischer Überschuss kommt ins Spiel, aber nirgends in seinen Filmen wird über jene Zeit ausgehend von vorgefassten narrativen Typenkonstruktionen erzählt, nirgendwo top down, sondern von der Beobachtung und Erfahrung her. Nie stellt sich darum der Eindruck ein, es mit ›ausgedachten‹ Charakteren zu tun zu haben.
Dresen verzichtet in Filmen, die Alltag und Geschichte reflektieren, nicht nur in Hinsicht auf die Figurenwelt auf Stereotype des medial geprägten Alltagsdenkens, sondern auch auf Stereotype filmischer Imagination, und er verzichtet auf ästhetische Klischees – etwa, wenn es um die DDR geht, auf das leicht graue Kolorit der Dekorationen und Kostüme, wie man es heute häufiger sieht. Oder, wenn städtische Räume eingeführt werden, fehlen die üblichen touristischen und medialen landmarks, an denen zum Beispiel Fernsehserien kaum je vorbei kommen. Stattdessen lässt er etwa in WOLKE 9 die S-Bahn unmittelbar am Kleingarten der Tochter vorbeifahren, auch ansonsten ist sie in der Handlungswelt durchgängig präsent, häufig nur als nahes oder ferneres Fahrgeräusch. Das trägt nicht nur zur berlinischen Atmosphäre bei, sondern auch dazu, ein transitorisches Moment zu betonen. Einmal wird auch die psychische Bedrängnis und innere Konfliktlage der Protagonistin – durch das geräuschvolle Vorbeiziehen der S-Bahn – in ihrer Wirkung auf uns akzentuiert.
Was das Schauspiel betrifft, verhält es sich ähnlich. Ein Spiel, das die eigene Qualität oder auch die Imago eines Stars ostentativ hervorkehrt, interessiert Dresen nicht, jedenfalls viel weniger als gelungene Momente einer alltagsnahen Improvisation, die ihre Kunstfertigkeit gleichsam unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung entfaltet. Mit anderen Worten: Er baut seine Welten – um Siegfried Kracauers Sprachgebrauch aufzugreifen – »von unten nach oben«, von der konkreten Erfahrung ausgehend.2 All dies und einiges mehr hinterlässt dann den berechtigten Eindruck, etwas von der Realität, vom Alltag der erzählten Zeit mitzuerleben. Das hat Dresen das – nicht völlig unberechtigte – Lable ›sozialer Realismus‹ oder sogar ›authentisch‹ eingebracht. Doch geben seine Filme selbstverständlich nicht einfach nur gut beobachtete Realität pur wieder. Sie sind sorgfältig konstruiert, entfalten und plausibilisieren mit vielfältigen Kunstgriffen und voller Spielfreude ihre jeweils eigenen Imaginationswelten, sie funktionieren nach einer durchdachten Dramaturgie, emotional rhythmisiert, und sie kreieren auch utopische Momente.
Wenn am Ende von HALBE TREPPE in Uwes Imbissbude einige prekäre Gestalten, die hier bei einem Bier letzten Halt finden, zusammenkommen und von Uwe, der beginnt, seine Trennung zu verdauen, ebenso wie die musizierenden 17 Hippies eingeladen werden zu feiern, so versetzt dieser musikalische Schluss auch das Kinopublikum in gute Stimmung und lässt zugleich einen Funken Utopie überspringen. Natürlich ist die Szene nicht einfach ›authentisch‹, im Alltag wäre sie so kaum wahrscheinlich. Sie ist vielmehr wohlbedacht gewählt, inszeniert, musikalisch und visuell konstruiert. Sie ist Kino! Ein Kino, das weit von der konventionellen Formel des Happy End entfernt ist, und dennoch sein Publikum mit einem Moment der Hoffnung ausgestattet entlässt – melancholisch, doch zugleich beschwingt. Hier wird Realität in der Imagination aufgehoben. Und das ist Kino.
Ironische Blicke
Noch im Rahmen seines Studiums drehte Andreas Dresen an der Babelsberger Filmhochschule zwei Dokumentarfilme, die wie einige andere Arbeiten aus jener Zeit heute auch auf DVD3 zugänglich sind: WAS JEDER MUSS … (1988) über einen jungen Mann, der zum Wehrdienst bei der NVA eingezogen und vom Filmteam dorthin begleitet wird, und JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN (1989), eine Art Gruppenporträt einer »Brigade der Freundschaft«, die, vom FDJ-Zentralrat nach Afrika entsandt, in Simbabwe ein Ausbildungscamp aufbauen soll. Beides Themen, die politisch erwünscht waren, weshalb die Dreharbeiten sowohl von der NVA als dann auch vom FDJ-Zentralrat gefördert wurden, was dem Filmteam Möglichkeiten und Zugänge öffnete. In beiden Fällen entstand aber letzthin etwas, das die Erwartungen der Auftraggeber substanziell unterlief.
Dabei entsprach die Grundlinie der jeweiligen Vorgänge im Grunde dem, was erwartet wurde. WAS JEDER MUSS … ließe sich in diesem Sinne so nacherzählen: Der Film zeigt den Protagonisten, der Härten des Armeelebens auf sich nimmt, einrückt, weil »jeder muss«, und sich dann sogar dazu bekennt, dass es in der Welt der Militärblöcke wohl kaum ohne Armee gehe. Er nimmt am militärischen Training teil und gehört dazu, als die Vereidigung geprobt und vollzogen wird; er erträgt den Kasernenalltag sowie die Trennung von seiner Freundin und dem gemeinsamen Baby und begeht schließlich in der Kaserne das von der FDJ-Leitung gestaltete Weihnachten, mit dem der Film endet. Und JENSEITS VON KLEIN WANZLEBEN ließe sich entsprechend so umreißen: Der Film berichtet davon, wie 120 km südwestlich von Harare im Busch aus dem Nichts ein Camp errichtet, mit Trinkwasser und Energie versorgt wird, die Mitglieder der Brigade die ersten Häuser beziehen und wie im Zuge des Camp-Aufbaus als learnig by doing eine Gruppe einheimischer junger Männer ausgebildet wird. Wer beide Filme aber sieht, bemerkt bald, dass diese Art der Zusammenfassung nicht das trifft, was sie ausmacht. Denn das Geschehen wird mit einem ironischen Blick, einer ironischen Konstruktion und Materialauswahl unterlaufen.
In WAS JEDER MUSS … geschieht das schon dadurch, dass mehrfach Szenen beim ›Training‹ gezeigt werden, in denen der Protagonist den wiederholten Kommandos »Tempo 1, Tempo 2, Tempo 3 und Tempo 4« folgend den immer gleichen Bewegungsablauf im Umgang mit der Waffe in vier Phasen nachvollziehen muss – einen Ablauf, der zudem bereits in der jeweiligen Szene mehrfach repetiert wird. Allein schon diese auffällige Wiederholung des banalen Drills auf Kommando, der ein Moment von Entwürdigung in sich trägt, setzt – fast einem Leitmotiv gleich – den Ton für die Ödnis des Ganzen.
Gesteigert wird der entsprechende Eindruck dann über mehrere Stationen hinweg, vor allem in einer Sequenz, die zeigt, wie die Truppe die anstehende Vereidigung trainiert.