Das Mädchen aus der Untergasse 13. Dorothea Theis. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dorothea Theis
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991077596
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zurücklaufen musste. Jahre später war die Familie Hesse aus Marburg weggezogen, sie hatten jetzt einen Bauernhof in Schweinsberg, und wir besuchten sie dort mal. Ich fragte dann auch sofort nach Hasso, aber man sagte mir, der sei gestorben.

      Heute in Marburg habe ich in meinem neuen behindertengerecht umgebauten Badezimmer einen Fußboden aus polierten und blaugrau eingefärbten natürlichen Kalksteinfliesen. Dessen Marmorierung lässt, ganz besonders auf einer Fliese, wenn ich genau hinsehe, vor meinem geistigen Auge so etwas wie das Gesicht eines Schäferhundes oder Wolfes entstehen. Habe auch schon meine Mädchen vom Pflegedienst gefragt, ob sie auf dieser Fliese in der Marmorierung vielleicht etwas erkennen können, und wenn ja, was. Sie sagten immer dasselbe: Ein Hundegesicht. Es ist wohl das gleiche Phänomen, durch welches wir in Wolken am Himmel manchmal Gesichter zu erkennen glauben. Vielleicht ist ja zu Urzeiten, als die Fliesen noch Schlamm am Boden irgendeines Tümpels waren, dort mal ein Wolf ertrunken, dessen Strukturen sich jetzt auf diese Weise widerspiegeln? Ich denke dann, sieht aus wie damals Hasso: Er scheint auf mich aufpassen zu wollen, wie zu der Zeit, als ich klein war.

      Als ich etwas älter war und schon ein längeres Stückchen laufen konnte, wurde es meine Aufgabe, einkaufen zu gehen. Ich wurde mit einem Zettel losgeschickt, der Weg war nicht weit: Ein Metzger mit Namen Hellmann hatte seinen Laden auf der Untergasse quer über die Straße, ein kleines Lebensmittelgeschäft war unten im Haus, und zum Bäcker und Milchmann musste man lediglich um die Ecke den Hirschberg hinauf gehen. So wurde ich mit der Milchkanne in der Hand den Berg hochgeschickt. Zum Metzger Hellmann, quer über die Untergasse, ging ich gerne; denn dort bekam ich immer ein kleines Stückchen Fleischwurst geschenkt.

      Meine Oma aus Pommern kochte norddeutsche Gerichte, wie z. B. Steckrüben mit Thymian, Salzkartoffeln und mitgekochtem Schweinebauch; Grünkohl mit Speck und Kartoffeln oder Frikadellen (pommersch’ „Flinzen“ genannt), auch Bratwurst mit Wirsing und Kartoffeln.

      Am Tisch durfte ich nicht sprechen. Ich durfte auch nicht eher aufstehen, bis ich meinen Teller, den ich immer aufgefüllt bekam, leergegessen hatte. Und ich musste dann mit „bitte“ fragen, ob es erlaubt war aufzustehen. Schrecklich fand ich immer die Brotsuppen mit warmer Milch oder sogar mit Buttermilch. Letztere Variante roch immer so scheußlich, aber meine Mutter war ganz begeistert davon. Mich musste man ständig dazu prügeln, was auch geschah; denn das Schlagen von Kindern war in meiner Familie noch absolut üblich. Dazu wurde immer die „Schlur“, hochdeutsch der „Pantoffel“, ausgezogen und dazu als Werkzeug verwendet. Der Pantoffel sei nicht so hart wie ein Stock, hieß es.

      Ich wünschte mir immer ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Man sagte mir, dazu müsse ich für den Storch, der ja die Babys brächte, kleine Zuckerkügelchen auf die Fensterbank legen. Die Zuckerkügelchen legte ich aus, aber ein Geschwisterchen kam nie. Ich glaube, der Storch hatte was gegen mich. Meine Zuckerkügelchen waren jedoch immer weg. Das machte mich unendlich traurig.

      Meine Oma aus Pommern versuchte dann, mir einen Kindergartenplatz zu besorgen, und ging mit mir zu einem Kindergarten im Südviertel der Stadt. Ich fand es ganz toll dort, so viel Spielzeug auf einmal hatte ich noch nie gesehen, und dann hätte ich ja auch die langersehnten Spielkameraden. Aber die Leiterin winkte ab, für mich hätten sie keinen Platz, hieß es; denn ich hätte doch eine Oma, die nach mir sehen könnte. Als Trost bekam ich ein kleines Bildchen geschenkt, und wir wurden zur Tür geführt. Ich weinte vor Wut und schmiss das Bildchen in die nächstbeste Mülltonne.

      Diese Oma strickte mir auch für den Winter immer lange Strümpfe aus dünner kakaobrauner Wolle. So richtig perfekt, mit eingearbeiteter Ferse und abgenommenen Maschen an der Fußspitze. Diese waren mit einem Strumpfhaltergürtel, an welchem an jeder Seite zwei Gummibändchen mit Knopflöchern befestigt waren, zu tragen. An den Strümpfen wurden oben am Rand dann jeweils zwei Knöpfchen angenäht, die in die Knopflöcher der Gummibändchen passten. Die Strümpfe waren schön warm. Aber wehe, wenn ich bei meinen Einkaufstouren gefallen war, hatte mir die Knie aufgeschlagen, und die Strümpfe hatten dadurch ein Loch bekommen. Dann kam die Oma mit der „Schlur“ und ich bekam den Hintern versohlt, weil ich ihr „Kunstwerk“ beschädigt hatte, und sie jetzt stopfen musste.

      Dann wurde alles anders, mein Vater kam nicht mehr, um mit mir zu spielen, und auch die schönen Samstagabendessen, an denen es immer echten heißen Kakao zu trinken gab, fielen weniger reichhaltig aus. Meine Oma habe eine große Summe Geld als Lastenausgleich für ihren verlorenen Bauernhof in Pommern bekommen, hieß es. Von diesem Geld habe sie im Nordosten von Marburg ein Grundstück gekauft, auf welchen nun wieder ein eigenes Haus gebaut werden sollte. In der Größe wenigstens so lang, wie das in Pommern an der Giebelseite breit war, sollte es werden. Papa sei am Wochenende dort, schlafe im Bauwagen, und helfe bei den Arbeiten. Auch der Schrebergarten wurde jetzt nicht mehr so oft besucht und schließlich gekündigt. Das Gemüse wurde von nun an auf dem neuen eigenen Grundstück gezogen.

      Man nahm mich dort auch mit hin. Es ging mit dem Bus vom Erlenring aus den Cappeler Berg hinauf und dann links eine Landstraße mit Straßengräben und Apfelbäumen an beiden Seiten, mit dem Namen Großseelheimerstraße, bergan. Einige wenige Häuser standen dort, ein alter Turm, Pulverturm genannt, und eine Schäferei vor einem angrenzenden Wald. Und viele Felder gab es. Ganz oben auf dem Berg war eine kleine Siedlung, die Hansenhaussiedlung, gegründet im Jahr 1934, und benannt nach den sich dort befindlichen Ausflugslokalen Hansenhaus Links und Hansenhaus Rechts.

      Unser Grundstück war ein ziemlich großes, am Ende einer Doppelhausreihe aus den 30ger Jahren und einem kleinen fachwerkartigen Haus. Und ich sah, dass mein Vater am hinteren Ende des Bauplatzes mit einer Schippe ein großes tiefes Loch für den Keller des Hauses gegraben hatte. Die Erde hieraus hatte er mit dem Schubkarren herausgefahren und auf einem hohen Haufen davor aufgetürmt. Auf diesem zog meine Oma jetzt Gemüse und Kartoffeln und es blühten auch schöne Blumen dort.

      In den nächsten beiden Jahren wuchs das Haus langsam in die Höhe. Ein Ein-Familien-Haus sollte es werden, mit Einlieger-Wohnung im ersten Stock, für meine pommersche Oma, die ja die Bauherrin war, und meine Uroma, ihre Mutter.

      Im Jahr 1959, ich war jetzt 5 Jahre alt, war es dann im Sommer soweit: wir packten unsere Sachen in der Untergasse, bestellten ein Umzugsunternehmen und zogen ins fertige Häuschen in der Großseelheimer Straße.

      Der Umzugstag gestaltete sich für mich als ein ziemliches Durcheinander. Plötzlich waren fremde Leute bei uns in der Wohnung, die unsere Möbel wegtrugen und in ein großes Auto unten auf der Untergasse packten. Meine Oma war immer abwechselnd anwesend und dann wieder für ein paar Stunden weg. Und wenn sie ging, hatte sie die Hände immer voll mit irgendwelchen Gegenständen und Taschen. Sie fahre in die Großseelheimer Straße und bringe alles dort hin, sagte sie. Ich wollte auch mitfahren, und beschloss auf die Untergasse hinunter zu laufen, mich an der Ecke in der Tür des Lebensmittelgeschäftes im Haus zu verstecken. Ich wollte die Oma, wenn sie dann vorbeikäme, überraschen. Aber es dauerte und dauerte, und keine Oma kam. Sie war die Untergasse zur anderen Seite, Richtung Universitätsstraße, zur Bushaltestelle gegangen. Nur dass ich dies zu der Zeit noch nicht wusste.

      Nach einiger Zeit fasste ich den unguten Entschluss, mich alleine auf den Weg zu machen und lief die Untergasse hinunter Richtung Rudolfsplatz. Unten an der Straße war ein Fußgängerüberweg, und da stand zu dieser Zeit immer ein Schutzmann, der den Verkehr regelte. Entweder ließ er die Autos durchfahren oder er leitete die Fußgänger in bestimmten Abständen über die Straße. Diesem fiel ich auf, als ich so ganz alleine ohne erwachsene Begleitung am Straßenrand stand. Er verließ seine Verkehrsinsel, kam zu mir und fragte mich, wo ich denn hinwolle. Ich erzählte und mein Ausflug nahm ein schnelles Ende. Er verfrachtete mich in die Apotheke an der Ecke und ließ meine Leute in der Untergasse von meinem Abenteuer benachrichtigen. Meine Oma holte mich dann später ab, nachdem sie wieder aus dem neuen Haus zurückgekommen war. Sie schimpfte fürchterlich, und dann fuhren wir zusammen mit dem Bus in die Großseelheimer Straße.

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