Es ist ein sehr altes Haus, welches über einen Hof an die Stadtmauer angrenzt und dessen große Wohnungen nach dem Krieg zum Teil auf mehrere Familien aufgeteilt worden waren. Wir hatten aber trotzdem im 2. Stock noch eine 3-Zimmer-Wohnung mit Küche, allerdings kein Bad. So etwas gab es nirgendwo im Haus, und die Toilette, eine einzige im gesamten Haus, war ein Plumpsklo auf dem Flur, zwischen der zweiten und dritten Etage gelegen. Immer abwechselnd war es da die Aufgabe der im Haus wohnenden Parteien, genügend Zeitungspapier in postkartengroße Stücke zu zerschneiden, und an den im Klo an der Wand angebrachten Haken, anstelle des damals nicht vorhandenen Toilettenpapiers, anzubringen. Die Hinterlassenschaften fielen in eine Sickergrube, die in bestimmten Abständen, vermutlich alle paar Monate, abgesaugt wurde. Gegenüber der Toilette, auf dem Flur, befand sich dann auch ein kleines Waschbecken zum Händewaschen. Im ziemlich dunklen Hausflur, durch die Flurfenster schaute man auf die direkt angrenzende Hausmauer des Nachbarhauses, roch es immer muffig, nach altem Holz und Bohnerwachs.
Der Keller des alten Hauses war aus dickem Sandstein gemauert, wirkte sehr mittelalterlich und hatte ein nahezu unheimliches Flair. Wenn man die steile Sandsteintreppe hinunterstieg, befand sich linker Hand eine zugemauerte Tür, die vermutlich zu Kriegszeiten, als man den Keller als Luftschutzbunker genutzt hatte, ein Notausgang zum Keller im Nachbarhaus gewesen war. Nach hinten zum Hof in Richtung Stadtmauer befand sich in der Decke ein offenes Eisenrost, durch welches es je nach Wetter und Jahreszeit hereinregnete oder schneite, und von wo man von unten auf den Hof darüber sehen konnte. Auch dort war ein verschütteter Gang, vermutlich hatte der mal in Richtung Stadtmauer geführt.
Auf diesen Hof durfte ich nur in Begleitung einer meiner Omas, zum Beispiel, wenn diese dort Wäsche zum Trocknen aufhängen wollte. Wenn sie mich dann auf die sehr breite Stadtmauer setzten, konnte ich auf die Universitätsstraße hinunterschauen, und genau unter mir die Überreste der im Krieg zerstörten jüdischen Synagoge sehen. Meine hessische Oma erzählte mir, wie sie an dem Tag, als die Nationalsozialisten sie ansteckten, aus dem Schlafzimmerfenster geschaut hatte, und gesehen hatte wie sie brannte. Das im Hof hinter dem Haus niedrige, angebaute Langhaus gehörte der Polsterei Fuß, bei dieser ließen wir uns mal unsere alten Wohnzimmer-Polstermöbel aufhübschen. Und unten Im Erdgeschoß des Vorderhauses, in welchem wir wohnten, befand sich ein kleiner Lebensmittelladen mit seinen Lagerräumen. Er war durch eine Außentür an der Ecke zur Straße begehbar. In den anderen Etagen des Hauses wohnten außer uns und meiner Oma Pfingst, der Mutter meines Vaters und deren Familie, noch eine Familie Mankel und eine Familie Mohr, und im Dachgeschoß eine Frau Brase, sowie einquartierte Weltkriegsflüchtlinge und ein paar Studenten.
Mit in unserer Wohnung in der Untergasse lebte ein Kriegsblinder Student, der Herr Becker, mit seiner Frau in einem Zimmer, und noch eine alte Dame, die ich aber nie zu Gesicht bekam, in den restlichen zwei Zimmern. Die ursprüngliche Küche war ein dunkler, unbewohnter Raum ohne Möbel, der lediglich zum Wasserholen am dortigen einzigen Waschbecken auf der Etage diente. Auf dem Flur der Wohnung befand sich ein großer grüner Kachelofen, der wahrscheinlich mal zum Beheizen der gesamten Wohnung gedient hatte, zu unserer Zeit aber nie genutzt wurde. Wir hatten in jedem Zimmer einen kleinen Kohleofen.
Meine persönliche Erinnerung an dieses Zuhause beginnt sehr früh. Die erste ist eine sehr intime: Meine Mutter saß im Schlafzimmer am Rand des Bettes und hatte mich an ihre Brust gelegt. Ich muss sie wohl beim Trinken mit meinem noch zahnlosen Mund etwas gekniffen haben; denn sie bemerkte: „beiß mich nicht so“! Ein eisiger Willkommensgruß in diese Welt, denke ich dazu heute. Ein Kinderzimmer war zu der damaligen Zeit Luxus, was heißt, es gab keines. Mein Kinderbettchen hatte ich gebraucht von meiner Oma väterlicherseits bekommen. Sie wohnte mit ihren zwei Töchtern und deren drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen, in der Etage über uns, in zwei kleinen Zimmern mit Küche, einem Teil der dortigen Wohnung. Es stand im Schlafzimmer meiner Eltern, am Fußende des Ehebetts. Wenn ich Mittagsschlaf machen sollte, packte man mich zuerst im Schlafzimmer meiner Oma und Uroma, welches ein kleines vom Wohnzimmer abgetrenntes Kämmerchen war, in eines der dortigen Betten. Das Bettzeug dort war aus Pommern mitgebracht worden, rot-weiß-kariert, aus eigenem Leinen selbst gewebt, und kratzte fürchterlich. Oft brachte man mich dort auch abends ins Bett. Meine Mutter las mir dann noch etwas aus meinem einzigen Märchenbuch vor. Es war ein Buch mit nur einer Geschichte und vielen großen Bildern. Den Text kannte ich schon auswendig, und ich beschwerte mich immer, wenn ich merkte, dass meine Mutter während des Lesens Text unterschlug, um schneller fertig zu werden. Nachdem ich dann eingeschlafen war, trug man mich in mein eigenes Kinderbett im Schlafzimmer meiner Eltern.
Gebadet wurde ich in einer großen runden Schüssel, von der gesagt wurde, sie sei aus dem Blech eines abgestürzten Flugzeuges gestanzt worden, auf dem großen Tisch im Wohnzimmer. Auch meine Windeln bekam ich dort an. Diese waren aus Stoff, wurden nach Gebrauch immer wieder ausgekocht und erneut verwendet. Pampers gab es nicht. Das Wasser zum Baden wurde in unserer Küche mit Wasserkessel auf dem Herd heiß gemacht und kaltes zum Temperieren dazu aus dem Waschbecken in der unbewohnten Küche mit dem einzigen Wasser-Anschluss der Etage geholt. Meine Ernährung bestand aus selbstgekochtem Schoko- oder Vanille-Pudding, Apfelmus, Kartoffelbrei, Grießbrei, Hafersuppe und Kuhmilch. Hipp Babynahrung, etc., war noch nicht erfunden. Dementsprechend kugelrund sah ich auch aus. Süßigkeiten waren jedoch absolut tabu, dafür bekam ich immer frisches Obst der Saison zu essen.
In meinem ersten Lebensjahr lebten die Kinder und Enkelkinder der Mutter meines Vaters noch in der Wohnung über uns bei ihrer Großmutter, der Oma Pfingst. Wolfgang, ihr 10-jähriger Enkel, somit mein Cousin, kam des Öfteren zu uns, um mit mir ein bisschen zu spielen. Ich besitze hiervon noch ein kleines Foto. Auf diesem bin ich, auf einer Decke liegend, zu sehen, wie ich ihn, während er sich zu mir herunterbeugt, an den Haaren ziehe.
Die übrigen Familienmitglieder, außer Oma Pfingst, durften nicht zu mir. Ihre übrigen Enkel waren im Teenager- und Twen- Alter und somit wohl mit anderen Dingen zu sehr beschäftigt. Auch ihre beiden Töchter hatten amerikanische Soldaten als Freunde und waren mit diesen viel „auf Achse“.
Altes Foto von Angehörigen der Familie meiner Marburger Oma Pfingst aus den 40ger Jahren. Von links nach rechts: Kleiner Wolfgang, seine Mutter, mein Vater, Oma Pfingst, Wolfgangs Schwester
Mein Onkel, Bruder meiner Mutter, kam samstags zu uns. Er machte zu der Zeit eine Lehre, wurde auf einem Bauernhof in einem Dorf hinter Marburg als Knecht angelernt, und war ein leidenschaftlicher Motorradfahrer. Er war wohl auch etwas rücksichtslos. Mein Cousin Wolfgang musste dies erfahren: Als er einmal auf dem Motorrad von Marburg bis auf seinen Ausbildungshof in Weimar mitfahren durfte, ließ er ihn zu Fuß den langen Weg nachhause zurücklaufen. An einem Samstagabend brachte mein Onkel auch mal ein graubraunes Kaninchen mit. Ich hatte so ein Tierchen noch nie gesehen. Er ließ es auf dem Wohnzimmerfußboden herumhoppeln, und überall wo es gewesen war, lagen auf einmal kleine schwarzbraune Kügelchen, die sahen aus wie Schokolade. Ich probierte eines, aber es schmeckte überhaupt nicht. Schokolade hatte ich, als ich sie mal bei Oma Pfingst bekommen hatte, eigentlich auch anders in Erinnerung. Er nahm das Kaninchen dann wieder mit, es war nicht als Geschenk für mich gedacht gewesen.
Ein Jahr später wanderte die Familie meines Vaters nach Amerika aus, und Oma Pfingst blieb alleine in der Untergasse zurück.
Ich bekam das ganze Spielzeug meines Cousins Wolfgang, seinen alten Teddy, viele Legobausteine, zwei Plastikpuppen, ein Dame-Brettspiel, und ein Spielzeug-Auto, einen großen, grauen Sattelschlepper- Laster, auf den man sich setzen und damit durch die Wohnung fahren konnte. Unsere Oma (Mutter meines Vaters) hatte mir das wohl schon etwas ramponierte Bärchen, bevor sie ihn mir gab, noch etwas verschönert, die abgelutschten Pfötchen mit Stoff umnäht, und anstelle der mittlerweile fehlenden Augen zwei braune Knöpfchen angebracht.
Dann wurde es etwas einsamer um mich herum. Auch mein Onkel kam nicht mehr. Er heiratete und zog nach Sand, einem kleinen Dorf bei Kassel, welches heute den vielversprechenden Namen „Bad Emstal“ trägt, weil man dort eine Mineralquelle gefunden hat.
Und ich war dann mit Laufen-lernen beschäftigt. Anfänglich rutschte ich auf meinem Töpfchen durch die Wohnung und malträtierte dabei den Fußboden aus