In den Fachdiskussionen weitgehend unwidersprochen war die Einschätzung aus den späten 1950er Jahren, dass die Hälfte der Heimerzieher nicht ausgebildet, der Erzieherbeststand überaltert, die Gruppen zu groß sind und die Erzieher „erschreckend häufig wechseln“.{236}
Aus diesen kritischen Beiträgen entwickelte sich keine, von einer Mehrheit getragene fachliche Auffassung oder gar eine Reformbewegung. Bis weit in die 1960er Jahre hinein sollte es zwischen vereinzelten kritischen Diskussionen in der Fachöffentlichkeit und der Ebene der praktischen Heimerziehung eine tiefe Kluft geben. Und die Praktiker waren stets darum bemüht, die Heimerziehung vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen. Die Jugendpolitiker setzten einen deutlichen Schwerunkt beim Aufbau der Kinder- und Jugendarbeit und bei anderen, präventiv in der Breite wirkenden Programmen. Die Heimerziehung blieb ein in sich geschlossenes und daher einer Reform nicht zugängliches System.
Die Akteure in der Jugendhilfe und speziell in der Heimerziehung waren zu Reformschritten wohl auch nicht in der Lage. Sie knüpften vielmehr stark an der Fachlichkeit der Vorkriegszeit an, in der sie bereits gewirkt hatten. Senator Eisenbarth und auch Frau Senatorin Karpinski waren ebenso wie die Leiterin des Landesjugendamtes von den 1920er Jahren geprägt. Kurt Röbiger, der bis 1958 Vorgesetzter der Leiterinnen und Leiter der Erziehungsheime war, war in den 1920er Jahren Lehrer im Waisenhaus in der Averhoffstraße. Auch auf der Ebene der Heimleitungen waren beispielsweise Frau Schulze aus dem Heim Gojenberg und Frau Cornils aus der Feuerbergstraße bereits seit Ende der 1920er Jahre im Heimdienst tätig. Ähnlich stellte es sich auch in der Mitarbeiterschaft dar.
Im Bereich der Psychologie und Medizin wirkten die erbbiologisch geprägten Konzepte zur Verwahrlosung und Unerziehbarkeit aus den späten 1920er Jahren und der Zeit des Nationalsozialismus im Nachkriegsdeutschland nach. Der Psychiater Villinger trat als Koryphäe seines Faches zwar etwas gemäßigter auf, und auch die leitenden Heimärzte in Hamburg, Mann und Hülsemann, durften ihre Tätigkeit nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes fortsetzen. Die von ihnen in der Vergangenheit vertretenen Auffassungen und Methoden erfuhren jedoch nur oberflächliche Korrekturen, wie Stil und Inhalt der Gutachten zum Beginn der 1950er Jahre belegen. Erst langsam und vor allem mit neuem Personal änderte sich auch die psychologische und psychiatrische Begutachtungspraxis.{237}
Nach dem Krieg lebte auch die Forderung des AFET wieder auf, ein „Bewahrungs- und Arbeitserziehungsgesetz“ zu verabschieden, um die „Unerziehbaren“ aus den Heimen zu verbannen. Ein solches Gesetz wurde jedoch nie beschlossen. Die „Unerziehbaren“ blieben also in den Heimen, ohne dass neue pädagogische Ansätze Einzug hielten, oder sie wurden wegen mangelnder Erfolgsaussicht der erzieherischen Maßnahmen aus den Heimen entlassen.{238}
Dieser konservativen Tendenz in der Jugendhilfe stand ein kultureller Wandel in den Wirtschaftswunderjahren gegenüber. Die deutsche Jugend begeisterte sich für die amerikanischen Einflüsse wie neue Musikrichtungen, Comics, Kleidungsstile und liberalisierte Geschlechterrollen. Dies erschütterte die von Ordnung geprägte, deutsche Leitkultur. Viele in der Jugendhilfe Tätige konnten diese Veränderungen nicht verstehen und nicht verarbeiten. Fachvertreter sahen in dieser Entwicklung sogar eine Gefährdung junger Menschen, die einen Eingriff des Staates erforderlich machte. Die Zahl der in Heimen betreuten Minderjährigen stieg auch vor diesem Hintergrund ab 1950 an und nahm erst zum Ende des Jahrzehnts wieder ab.{239}
Auf der Ebene der Gesetzgebung gab es ebenfalls wenig Fortschritt. Das Reichjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 blieb in seiner Fassung von 1932 auch nach dem Krieg in Kraft. Umfassendere Reformversuche Anfang der 1950er Jahre setzten sich nicht in neues Recht um. Erst 1961 wurde ein novelliertes Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) verabschiedet, das auch die Heimerziehung etwas klarer regelte. Bis zu dieser Novelle war im Gesetz die Fürsorgeerziehung geregelt, die bei einer Gefährdung des Kindes durch das Vormundschaftsgericht angeordnet werden konnte. Neben der eher längerfristigen Erziehung in einem Heim waren auch die eilige und die versuchsweise Fürsorgeerziehung geregelt. Sie sollten den sofortigen Schutz eines Kindes regeln und dessen pädagogische Erreichbarkeit in einem Fürsorgeerziehungsverfahren klären. Eltern konnten aber auch aus ihrem elterlichen Recht heraus mit ihrer Einwilligung oder auf eigenes Betreiben ihr Kind in die Fürsorgeerziehung übergeben und damit auch die Beendigung der Erziehung in einem Heim bestimmen. Für diese freiwillige Erziehungsmaßnahme fand sich im RJWG keine eindeutige Regelung. Die Länder hatten allerdings in ihren Landesfürsorgegesetzen seit Ende des 19.Jahrhundert und später in den Ausführungsgesetzen zum RJWG bereits Regelungen getroffen. In Hamburg, mit seiner langen Tradition seit 1892 auf diesem Gebiet und anders als in anderen Ländern, überwog die Zahl der freiwilligen Erziehungshilfen gegenüber der angeordneten Fürsorgeerziehung daher auch in den Nachkriegsjahren deutlich. Daneben gab es noch einen weiteren Zugangsweg in ein Erziehungsheim: Das Jugendgericht konnte in Jugendstrafsachen eine Unterbringung in einem Jugendheim nach dem Jugendgerichtsgesetz veranlassen.
Das Jugendwohlfahrtsgesetz von 1961 brachte einige wenige Verbesserungen: so wurde etwa die freiwillige Erziehungshilfe einheitlich geregelt. Außerdem wurden die Aufgaben einer Heimaufsicht definiert, die bislang in Deutschland sehr unterschiedlich geregelt waren. In Hamburg gab es seit den 1920er Jahren bereits eine landesjugendamtliche Aufsicht. Neu geregelt war auch, dass die Träger der Heime nur „geeignete“ Kräfte zu beschäftigen hatten, womit jedoch nicht unbedingt ausgebildete Fachkräfte gemeint waren. Es gab einfach zu wenige Fachkräfte, so dass ein Fachkräftegebot gar nicht umzusetzen gewesen wäre.{240} Die Rechtsänderung hatte auf den Alltag in Heimen allerdings kaum Auswirkungen, wie in einem Gutachten aus dem Jahr 2010 festgestellt wurde: „Im Ergebnis bleiben die Umstände, die … die ‚Misere‘ der Heimerziehung kennzeichnen, auch über die Reform von 1961 erstaunlich konstant.“{241}
Die Haltung gegenüber der Jugend, die Heimtraditionen, die ungenügende Finanzierung der Heime und die Ohnmacht des Personals, auch mit schwierigeren Jugendlichen umzugehen, waren die Rahmenbedingungen für einen Heimalltag, der an die Praxis der vergangenen Jahrzehnte anschloss. Kinder und Jugendliche wurden in der Regel streng erzogen und bisweilen eingesperrt, misshandelt, ausgebeutet und kaum individuell gefördert und wenig auf das Leben vorbereitet. Die Misere fing für viele Kinder bereits in den Säuglingsheimen an. Eine weit verbreitete und vom Bundesministerium für Familienfragen noch 1958 vertretene Auffassung war, dass Säuglinge „nicht pädagogisch betreut, sondern lediglich hygienisch gepflegt“ werden müssten. Dadurch erlitten aber viele Kinder erhebliche Entwicklungsrückstände und dauerhafte Schädigungen.{242}
Und die Öffentlichkeit ignorierte die ihr wenig bekannten Zustände in der Heimerziehung weitgehend. In ihrem Bewusstsein waren die Kinder und Jugendlichen und ihr vermeintlicher Unwille, sich angepasst zu verhalten, das Problem. Mit der Strenge des Heims, seinem Strafcharakter, wurde in der Bevölkerung gegenüber Kindern auch gerne mal gedroht: „Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!“{243}
Die Untersuchungen über die Heimerziehung von 1945 bis zu Beginn der 1970er Jahre kommen daher zu sehr kritischen Einschätzungen. Der AFET ordnete sich nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes im Mai 1945 „in die repressiven Traditionen der Debatten über ein Bewahrungsgesetz sowie der Konzepte zur Verwahrlosung und Unerziehbarkeit ein.“{244} Die diskutierten, notwendigen Reformen scheiterten vor allem an der „Reformresistenz der Heime, die auf eine Jahrzehnte alte ‚Tradition‘ im Hinblick auf Weltanschauung und eingefahrene ‚Erziehungsmethoden‘ zurückblickten.“{245} Damit waren die Heime bundesweit angesprochen, und zwar alle, also Heime sowohl in freier, oft kirchlicher, als auch kommunaler oder staatlicher Trägerschaft.
In Hamburg fand die Heimerziehung vor allem in den städtischen Heimen statt. Hamburg war allerdings auch nach dem Krieg wie zuvor darauf angewiesen, Kinder und Jugendliche außerhalb der Stadt unterzubringen. So wurden beispielsweise 1966 190 auswärtige Heime durch die Hamburger Jugendbehörde belegt.{246} Die meisten Gebäude der städtischen Heime waren für einen Heimbetrieb nicht oder nur bedingt geeignet. Sie waren vor längerer Zeit für einen Anstaltsbetrieb