Claudile beobachtete ihn genau. Er lügt. Ich weiß nicht, warum aber er lügt.
„Ja, sicher. Geh nur.“
Francesco schüttelte ungläubig den Kopf. „Fritz weiß mehr, als er zugibt.“
„Lass ihn. Wir haben andere Probleme.“
Sie lehnte sich langsam zurück und überflog ihre Notizen.
Jede Menge Probleme.
„Sie hassen uns“, sagte sie bedrückt und starrte aus dem Fenster. „Das wird in einem Unglück enden, sage ich dir.“
Francesco kam näher, stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick. „Wieso uns? Ich bin ein Mensch.“
Sie wandte sich ihm zu.
„Nur ein Scherz.“ Er lächelte sanft und tätschelte ihre Schulter. „Ich schlage vor, dass wir zu Arbeiten beginnen. Ich werde Personal auftreiben und sehen, welche Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ich nehme an, dass ich über das Geld verfügen darf, Eure Ladyschaft?“
„Selbstverständlich.“ Sie knabberte an ihren Fingernägeln.
„Und Ihr macht am besten das, was Ihr am besten könnt.“
„Herrschen?“
„Jagen“, stellte er klar und fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. „Holt Euch den Mistkerl.“
Claudile trat ins Schlafzimmer des Barons und war nicht überrascht, dass es ähnlich wirkte wie das Arbeitszimmer. Krallenspuren, Dreck und überall der unverkennbare Geruch von Angst und Kummer. Blutstropfen. Sein Blut. Er hat sich selbst verletzt. Warum?
Die Angelegenheit wurde immer merkwürdiger.
Lyren war ein brutaler Mann, der jede Frau zur Witwe machte, die ihm gefiel. Die Rechnungen wurden nicht bezahlt.
Das Fenster stand weit auf und zeigte zum Wald hin. Die Spur war unverkennbar. Es war Zeit, den Herrn zu Rede zu stellen.
Behände sprang sie aus dem Fenster, rollte sich am Boden ab und ging gleich in ihre natürliche Form über: Muskeln, Sehnen und Fell. Die Spur war wie ein glühender Faden vor ihr, die es nicht zu Verlassen galt.
Als Wolf trippelte sie erst langsam los, ging über in einen schnellen Galopp und raste mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald, das Vögel entsetzt aufstoben. Nach einer Weile begleiteten sie ein Rudel Wölfe.
Sie ahnten, dass es was zu sehen gab.
In der Krone einer stattlichen Kiefer hatten geschäftige Hände einen sicheren Hort gebaut. Von außen kaum zu erkennen und vor allem sehr schwer zu erreichen. Die einzige Person, die dort im Schatten kauerte, unterbrach ihr Mahl und beobachtete dem Werwolf, wie sie schnell Richtung Nordosten lief. Sie trug eine engansitzende Lederkleidung und einem dunkelgrünen Mantel – ganz nach der Art der Waldläufer. Aber sie war kein Waldläufer.
Die Gestalt lächelte sanft, beendete das Mahl und nahm Stift und Pergament um sich Folgendes zu notieren: „14/10/43: Die Fürstin ist angekommen. Tochter von Alemont. Sie schnüffelt.“ Die Gestalt runzelte die Stirn und strich den letzten Eintrag. „Geht auf die Jagd und hat Wölfen Grenzen aufgezeigt.“ Schrieb sie stattdessen. Nun gut, es war kein Roman aber dennoch haltbar. Die Frau schirmte ihr Gesicht von den einfallenden Sonnenstrahlen ab und fluchte dezent, als Licht auf ihre kalkweiße Haut traf. Sofort kräuselten sich die Haare und der Geruch von verbranntem Haar machte sich breit.
Sie musste unbedingt die Stelle ausbessern, nahm sie sich vor. Sonst würde sie eines Morgens als Häufchen Asche aufwachen und das war mehr als nur störend.
Dennoch lächelte sie hinter ihrer Kapuze. Die Fürstin würde interessante Dinge tun.
3. Kapitel Neue Besen
Die Tür wurde geöffnet.
„Oh, guten Tag“, sagte die Glückliche Bettina freundlich und lächelte sanft Francesco an. „Entschuldige bitte die Störung. Du hast bestimmt viel zu tun, aber ich muss etwas fragen: Stimmt es, dass ihr Personal sucht? Mir fällt die Decke auf den Kopf.“
Francesco öffnete weiter die Tür und zählte sechszehn Kinder, die teils stoisch teils unruhig sich nach allen Seiten umsahen. Es waren verdreckte Gestalten unterschiedlichen Alters. Er blinzelte verstört. „Ich sehe, dass sich Nachrichten schnell verbreiten. Was kannst du so?“
„Alles.“
„Sind das deine Kinder?“
„Alle.“
„Was können sie?“
„Alles.“
Bettina gehörte zu den Frauen, die sich ganz ihrem Schicksal ergaben und einem Nachschlag verlangten. Ihr Becken war gewaltig, ihre Hände schwielig und das Kreuz von Gram gebeugt. Trotzdem lächelte sie auf eine Art, als würde sie als Mutter des Jahres einer Jury vorsprechen wollen. Francesco zweifelte nicht daran, dass diese Frau noch viele Kinder bekommen würde. Sie gehörte zu den Frauen, die selten Nein sagten.
Er nickte wissend. „Mmh, ich könnte eine Dienstmagd gebrauchen. Oder eine Küchenmagd. Oder eine Dienstbotin.“ Er überlegte kurz. „Eigentlich kannst du es dir aussuchen.“
„Gut“, sagte sie und zwängte sich an ihm vorbei. „Montag ist mein Ruhetag. Ich putze, wasche, koche, grille und stopfe Socken. Vier Cent pro Socke, Fünf Cent pro Hose, Zehn Cent pro Hemd und Waschen wird einzeln abgerechnet.“
„Du müsstest auch hier wohnen“, überlegte Francesco laut und sah sich um. „Ich glaube, wir haben noch Betten. Die Kinder bleiben draußen.“
„Nein“, widersprach Bettina. „Ganz ausgeschlossen.“
„Nein, sagst du.“
„Nein, sage ich.“ Bettina holte kurz Luft. „Klaus bekommt bald seinen ersten Zahn, Michel zahnt noch und braucht jeden Abend einen Wickel aus Kräutern. Isabelle kann nicht gut mit Mopsie, darum muss sie in meiner Nähe bleiben, aber sie hilft beim Kochen aus, Ferdinand tollt gerne herum und braucht eine starke Hand aber ihr Papa ist Müllkutscher und kommt erst spät nach Hause, darum ist er lieber in meiner Nähe, weil ich es so möchte. Jedes Kind ist ein Geschenk, aber jedes Geschenk ist einzigartig, wenn du verstehst, was ich meine, Herr. Die drei Kleinen da vorne können sich selbst beschäftigen, aber wenn ihre Mutter nicht in der Nähe ist, flechten sie sich gerne die Haare, Herr. Habt ihr schon mal versucht geflochtene Haare zu waschen? Es ist kein Vergnügen, Herr. Dann wären da noch Bubsie, Semmel, Knödel und Gustav. Sie können putzen, Herr. Wir brauchen nur Lappen. Und wir nehmen es in bar und sofort.“ Ruckartig ging ihre Hand zur Seite und erwischte einen Jungen dabei, wie er gerade auf Schatzsuche in seiner Nase ging. „Lass das, Björn. Mutter mag das nicht.“
Die ganze Zeit lächelte sie unverwandt und starrte Francesco an. Dieser starrte zurück. In ihren Augen glühte eine Art Wahnsinn, der nicht bösartig war, sondern diejenigen befahl, die sich mit ihrer ganzen Existenz einer Sache verschrieben hatten. Wie ein Briefmarkensammler, der beim Postamt arbeitete. Oder ein Schuster, der sich größte Mühe bei seiner Arbeit gab und auf der Straße jedem vorbeilaufenden Kunden zuerst zu den Füßen schaute, ob es den Schuhen auch gutging.
Er schluckte hart.
„Wir sind uns einig?“ flötete sie.
„Wir sind uns einig“, flüsterte er kleinlaut und machte Platz. „Ich hatte ja keine Ahnung…“
„Kann vorkommen, Herr“, antwortete sie und ging durch die Halle. „Zeig mir die Küche, Herr. Wir brauchen Lebensmittel, Kernseife und Nadel und Faden. Viel davon. Nur auf Vorkasse, Herr. Meine Spezialität sind Aufläufe. Ich weise daraufhin, dass ich nur die allerbesten Ratten verwende“, rief sie über die Schulter und ging mit ihrem Pulk