Fjodor Dostojewski: Hauptwerke. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754189153
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fühlte er. Er blickte noch einmal auf die Adresse des versiegelten Briefes: oh, hier gab es für ihn keine Zweifel und keine Beunruhigung, weil er glaubte und vertraute; was ihn bei diesem Brief beunruhigte, war etwas anderes: er mißtraute Gawrila Ardalionowitsch. Und doch war er bereits entschlossen, ihm diesen Brief persönlich zu übergeben, und hatte schon zu diesem Zweck das Haus verlassen; aber unterwegs änderte er seine Absicht. Beinah bei Ptizyns Haus begegnete ihm wie gerufen Kolja, und der Fürst beauftragte ihn, den Brief seinem Bruder zu eigenen Händen zu übergeben, als wenn derselbe direkt von Aglaja Iwanowna selbst käme. Kolja fragte nicht weiter und gab ihn ab, so daß Ganja gar nicht ahnte, daß der Brief so viele Zwischenstationen passiert hatte. Als der Fürst nach Hause zurückgekehrt war, ließ er Wjera Lukjanowna zu sich bitten, erzählte ihr so viel, wie erforderlich war, und beruhigte sie; denn sie hatte bis dahin immer nach dem Brief gesucht und geweint. Sie bekam einen großen Schreck, als sie erfuhr, daß ihr Vater den Brief weggetragen habe. (Der Fürst erfuhr von ihr erst später, daß sie zu wiederholten Malen bei der geheimen Korrespondenz zwischen Rogoschin und Aglaja Iwanowna Dienste geleistet habe; es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß dem Fürsten daraus irgendein Nachteil erwachsen könne ...) Der Fürst war schließlich in solche Verwirrung geraten, daß, als zwei Stunden darauf ein von Kolja abgeschickter Bote mit der Nachricht von der Erkrankung des Vaters zu ihm gelaufen kam, er im ersten Augenblick nicht begriff, um was es sich handelte. Aber dieser Vorfall hatte die Wirkung, ihn wiederherzustellen, da er ihn von seinen eigenen Sorgen stark ablenkte. Er verbrachte bei Nina Alexandrowna, zu der der Kranke selbstverständlich gebracht worden war, fast die ganze Zeit bis zum Abend. Er konnte sich fast gar nicht nützlich machen; aber es gibt Menschen, die man auch ohne das in gewissen schweren Augenblicken gern um sich sieht. Kolja war furchtbar ergriffen und weinte krampfhaft, rannte aber doch die ganze Zeit über herum; er lief nach einem Arzt und schickte ihrer drei; er lief nach der Apotheke und zum Heilgehilfen. Der General wurde zwar wieder ins Leben zurückgerufen, aber nicht zum Bewußtsein gebracht; die Ärzte sprachen sich dahin aus, der Patient befinde sich jedenfalls in Gefahr. Warja und Nina Alexandrowna wichen nicht von dem Kranken; Ganja war bestürzt und erschüttert, mochte aber nicht nach oben gehen und fürchtete sich sogar, den Kranken zu sehen; er rang die Hände und äußerte, als er mit dem Fürsten sprach, in unzusammenhängender Rede: »So ein Unglück! Und nun gerade zu solcher Zeit!« Der Fürst glaubte zu verstehen, von was für einer Zeit er rede. Ippolit traf der Fürst nicht mehr in Ptizyns Haus an. Gegen Abend kam Lebedjew herbeigelaufen, der nach der morgendlichen Aussprache bis dahin ununterbrochen geschlafen hatte. Jetzt war er beinah nüchtern und vergoß um den Kranken aufrichtige Tränen wie um einen leiblichen Bruder. Er klagte sich laut an, ohne jedoch zu erklären, worin sein Verschulden bestehe, und setzte der armen Nina Alexandrowna mit der alle Augenblicke wiederholten Versicherung zu, er, er selbst, niemand als er sei daran schuld ... einzig und allein aus vergnüglicher Neugier habe er es getan, und der Entschlafene (so nannte er wunderlicherweise den noch lebenden General) sei sogar ein höchst genialer Mensch gewesen. Er betonte mit besonderem Ernst immer wieder dessen Genialität, als ob das in diesem Augenblick irgendwelchen außerordentlichen Nutzen hätte schaffen können. Nina Alexandrowna, die seine aufrichtigen Tränen sah, sagte schließlich zu ihm ohne jeden Vorwurf und beinah mit einer Art von Zärtlichkeit: »Wir wollen es gut sein lassen; weinen Sie nicht mehr; Gott wird es Ihnen verzeihen!« Lebedjew war durch diese Worte und den Ton, in dem sie gesprochen wurden, so gerührt, daß er diesen ganzen Abend nicht mehr von Nina Alexandrownas Seite weichen wollte (auch nicht an den folgenden Tagen, bis zum Tod des Generals, verbrachte er fast die ganze Zeit vom Morgen bis in die Nacht hinein in diesem Haus). Im Laufe des Tages kam zweimal zu Nina Alexandrowna ein Bote von Lisaweta Prokofjewna, um über das Befinden des Kranken Erkundigungen einzuziehen. Als am Abend um neun Uhr der Fürst im Salon bei Jepantschins erschien, der sich bereits mit Gästen gefüllt hatte, begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach dem Kranken zu befragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna »sehr schön«, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten, »bescheiden, leise, ohne überflüssige Worte, ohne Gestikulationen, in würdiger Art; er war mit gewandter Manier in den Salon eingetreten; sein Anzug war tadellos«; er fiel nicht nur nicht auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht angenehmen Eindruck.

      Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte Angst machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von dem, was man mit dem furchtbaren Namen »die vornehme Welt« bezeichnet. Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen, und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf ihn machen werde. Dieser erste Eindruck war geradezu entzückend. Es kam ihm so vor, als seien alle diese Menschen geradezu dazu geboren, miteinander zusammen zu sein; als sei bei Jepantschins an diesem Abend keine »Gesellschaft« und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und anscheinende Herzlichkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal wußten, daß manches, was sie gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte, da es ihnen unbewußt und durch Erbschaft zugefallen war. Dem Fürsten, der ganz im Banne des entzückenden ersten Eindrucks stand, lag es fern, so etwas zu vermuten. Er sah zum Beispiel, daß dieser alte Herr, dieser hohe Würdenträger, der dem Lebensalter nach sein Großvater hätte sein können, sogar sein eigenes Gespräch abbrach, um ihm, einem so jungen, unerfahrenen Menschen, zuzuhören, und daß er ihm nicht nur zuhörte, sondern auch offenbar auf seine Meinung Wert legte und ihn mit solcher Freundlichkeit, mit solcher aufrichtigen Herzlichkeit behandelte, obwohl sie doch einander fremd waren und sich zum erstenmal sahen. Vielleicht wirkte gerade das Raffinement dieser Höflichkeit auf die warme Empfänglichkeit des Fürsten am allermeisten. Vielleicht hatte auch von vornherein seine persönliche Stimmung die Wirkung, ihn für einen günstigen Eindruck zu disponieren und ihn gewissermaßen zu bestechen.

      Und dabei waren alle diese Menschen, wenn sie auch natürlich »Freunde des Hauses« und untereinander befreundet waren, doch keineswegs mit der Familie und unter sich in der Weise befreundet, wie es der Fürst annahm, nachdem er ihnen soeben vorgestellt war und ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Es waren Leute darunter, die nie und um keinen Preis zugestanden hätten, daß die Jepantschins mit ihnen auch nur annähernd auf gleicher Stufe ständen. Es waren auch Leute anwesend, die einander entschieden haßten; die alte Bjelokonskaja empfand lebenslänglich eine starke Geringschätzung gegen die Gemahlin des alten Würdenträgers, und diese war ihrerseits weit davon entfernt, Lisaweta Prokofjewna zu lieben. Dieser Würdenträger, ihr Mann, der das Jepantschinsche Ehepaar seit dessen jungen Jahren aus irgendeinem Grund protegiert hatte und jetzt bei der Abendgesellschaft als der vornehmste Gast galt, war in Iwan Fjodorowitschs Augen eine so hohe Person, daß er in Gegenwart desselben kein anderes Gefühl als Ehrerbietung und Furcht empfinden konnte, und sich sogar aufrichtig verachtet hätte, wenn er sich auch nur einen Augenblick lang ihm gleichgestellt und ihn nicht für einen olympischen Jupiter gehalten hätte. Es waren Leute da, die einander jahrelang nicht gesehen hatten und gegeneinander nichts als Gleichgültigkeit, wenn nicht Abneigung, empfanden, aber sich jetzt begrüßten, als ob sie sich erst gestern in einer angenehmen Gesellschaft von Freunden gesehen hätten. Übrigens war diese Abendgesellschaft nicht zahlreich. Außer der alten Bjelokonskaja und dem alten Würdenträger, der wirklich eine wichtige Persönlichkeit war, und seiner Gattin war erstens noch ein sehr bejahrter General da, ein Baron oder Graf mit einem deutschen Namen, ein außerordentlich schweigsamer Mensch, der in dem Ruf stand, eine erstaunliche Kenntnis der Regierungsangelegenheiten zu besitzen und sogar beinah ein Gelehrter