Fjodor Dostojewski: Hauptwerke. Fjodor Dostojewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fjodor Dostojewski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754189153
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(was sich immer sehr schnell vollzieht) ihren höchsten Grad erreicht; in diesem Augenblick ist es ihnen, wie es scheint, sogar angenehmer, beleidigt zu sein, als nicht beleidigt zu sein. Diese reizbaren Menschen werden nachher immer von heftiger Reue gequält, selbstverständlich wenn sie klug genug sind, um einzusehen, daß sie sich zehnmal so empfindlich benommen haben, wie es angemessen gewesen wäre. Dieser Herr blickte mich eine Weile erstaunt an, die Frau dagegen war so erschrocken, als wäre es ein furchtbares Wunder, daß auch zu ihnen jemand kam; plötzlich aber stürzte der Herr, als ich noch kaum ein paar Worte gemurmelt hatte, mit einer wahren Wut auf mich los; aber namentlich weil er sah, daß ich anständig gekleidet war, hielt er sich wohl dadurch für schrecklich beleidigt, daß ich gewagt hatte, so ungeniert in seine elende Wohnung hereinzukommen und die ganze unordentliche Einrichtung zu betrachten, deren er sich selbst schämte. Er freute sich gewiß, daß er eine Gelegenheit gefunden hatte, an irgend jemand seinen Ärger über all seine Mißerfolge auszulassen. Einen Augenblick lang dachte ich sogar, er werde auf mich losschlagen: er wurde blaß wie eine Frau bei einem hysterischen Anfall, worüber seine Frau einen furchtbaren Schreck bekam.

      ›Wie können Sie es wagen, so einzutreten? Hinaus!‹ schrie er zitternd und kaum imstande, die Worte ordentlich herauszubringen. Aber plötzlich erblickte er in meiner Hand seine Brieftasche.

      ›Sie haben das wohl verloren?‹ sagte ich in möglichst ruhigem, trockenem Ton. (Das war übrigens das Richtige.)

      Er stand ganz erschrocken vor mir da und konnte eine Weile nichts begreifen; dann griff er schnell nach seiner Seitentasche, öffnete vor Schreck den Mund und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

      ›O Gott! Wo haben Sie es gefunden? Wie ist das zugegangen?‹

      Ich erklärte ihm in kurzen Worten und womöglich in noch trockenerem Ton als vorher, wie ich die Brieftasche aufgehoben hätte, ihm noch nachgeeilt wäre und ihm nachgerufen hätte, und wie ich endlich auf meine Vermutung hin, und beinah nur von meinem Gefühl geleitet, hinter ihm her die Treppe hinaufgelaufen wäre.

      ›O Gott!‹ rief er, zu seiner Frau gewendet; ›hier sind all unsere Dokumente darin und meine letzten Instrumente; hier ist alles ..., oh, mein Herr, wissen Sie, was Sie für mich getan haben? Ich wäre verloren gewesen!‹

      Ich griff unterdessen nach der Türklinke, um ohne Antwort fortzugehen; aber ich selbst hatte keine Luft, und plötzlich kam meine Aufregung in einem so heftigen Hustenanfall zum Ausbruch, daß ich mich kaum auf den Füßen halten konnte. Ich sah, wie der Herr nach allen Seiten umherstürzte, um für mich einen leeren Stuhl zu finden, wie er endlich die auf dem einen Stuhl liegenden Lumpen packte, sie auf den Fußboden warf, mir eilig den Stuhl reichte und mir vorsichtig behilflich war, mich darauf zu setzen. Aber mein Husten dauerte fort und beruhigte sich erst nach etwa drei Minuten. Als ich wieder zu mir kam, saß er schon neben mir auf einem anderen Stuhl, von dem er wahrscheinlich ebenfalls die Lumpen auf den Fußboden geworfen hatte, und betrachtete mich unverwandt.

      ›Sie scheinen leidend zu sein?‹ sagte er in dem Ton, in dem gewöhnlich die Ärzte reden, wenn sie zu einem Kranken kommen. ›Ich selbst bin Mediziner‹ (er sagte nicht: Arzt), und bei diesen Worten wies er zu irgendwelchem Zweck mit der Hand auf das Zimmer hin, wie wenn er gegen seine jetzige Lage protestierte. ›Ich sehe, daß Sie ...‹

      ›Ich bin schwindsüchtig‹, sagte ich möglichst kurz und stand auf.

      Er sprang ebenfalls auf.

      ›Vielleicht sehen Sie die Sache zu schwarz an, und ... bei Anwendung geeigneter Mittel ...‹

      Er war in größter Verwirrung und schien seine Fassung immer noch nicht wiedergewinnen zu können; die Brieftasche hielt er in der linken Hand.

      ›Oh, beunruhigen Sie sich nicht!‹ unterbrach ich ihn und griff wieder nach der Türklinke; ›in der vorigen Woche hat mich B...n untersucht‹ (ich brachte also wieder B...n hinein), ›und mein Fall liegt ganz klar. Entschuldigen Sie nur ...‹

      Ich wollte wieder die Tür öffnen und meinen verlegenen, dankbaren, beschämten Arzt verlassen; aber der nichtswürdige Husten befiel mich in diesem Augenblick von neuem. Nun bestand mein Arzt darauf, daß ich wieder Platz nähme und mich erholte; er wandte sich zu seiner Frau, und diese sagte mir, ohne ihren Platz zu verlassen, ein paar dankbare, höfliche Worte. Sie wurde dabei sehr verlegen, so daß sogar eine Röte auf ihren blaßgelben, hageren Wangen spielte. Ich blieb; nahm aber dabei eine Miene an, die in jedem Augenblick zeigte, daß ich sehr fürchtete, sie zu genieren. (Das war auch das Richtige.) Mein Arzt wurde schließlich von peinlicher Reue gequält; das sah ich.

      ›Wenn ich ...‹, begann er, fortwährend abbrechend und in andere Konstruktion übergehend. ›Ich bin Ihnen so dankbar und habe mir so viel gegen Sie zuschulden kommen lassen ... ich ... Sie sehen ...‹, er zeigte wieder auf das Zimmer, ›ich befinde mich augenblicklich in einer solchen Lage ...‹

      ›Oh‹, sagte ich, ›da ist nichts dabei; das ist nichts Ungewöhnliches. Sie haben wohl Ihre Stelle verloren und sind hergekommen, um sich vor den maßgebenden Persönlichkeiten zu rechtfertigen und eine neue Stelle zu suchen?‹

      ›Woher ... woher wissen Sie das?‹ fragte er erstaunt.

      ›Das sieht man auf den ersten Blick‹, antwortete ich, unwillkürlich in spöttischem Ton. ›Es kommen viele aus der Provinz hoffnungsvoll hierher, laufen hier herum und führen ein ebensolches Leben wie Sie.‹

      Er fing auf einmal an, mit zitternden Lippen lebhaft zu reden; er beklagte sich über das, was ihm wider fahren war, erzählte alles ausführlich und erregte, wie ich bekennen muß, mein Interesse; ich saß bei ihm fast eine Stunde. Er erzählte mir seine Geschichte, die übrigens von ganz gewöhnlicher Art war. Er war Arzt in der Provinz gewesen und hatte ein staatliches Amt bekleidet; aber da hatten nun Intrigen begonnen, in die auch seine Frau mit hineingezogen worden war. Er hatte seinen Stolz herausgekehrt und sich hitzköpfig benommen; bei der Gouvernementsbehörde war eine für seine Feinde günstige Personalveränderung eingetreten; sie hatten gegen ihn miniert und Beschwerden über ihn eingereicht; er hatte seine Stelle verloren und war, seine letzten Mittel zusammennehmend, nach Petersburg gekommen, um sich zu rechtfertigen; in Petersburg hatte man, nach dem bekannten Verfahren, ihm lange Zeit überhaupt kein Gehör gegeben, dann ihn angehört, dann ihn abschlägig beschieden, dann ihm lockende Versprechungen gemacht, dann ihm scharf und streng geantwortet, dann ihn aufgefordert, eine Rechtfertigungsschrift zu verfassen, dann deren Annahme verweigert, ihn aufgefordert, eine Bittschrift einzureichen – kurz, er war hier schon über vier Monate herumgelaufen und hatte all seine Mittel aufgezehrt; die letzten Sachen seiner Frau waren ins Leihhaus gewandert, und nun war das Kind geboren, und ... und ... ›heute habe ich auf die eingereichte Bittschrift endgültig einen ablehnenden Bescheid erhalten; und ich habe fast kein Brot mehr, nichts habe ich, und nun ist noch meine Frau niedergekommen. Ich ... ich ...‹

      Er sprang vom Stuhl auf und wandte sich ab. Seine Frau weinte in der Ecke; das Kind begann wieder zu wimmern. Ich zog mein Notizbuch heraus und begann darin zu schreiben. Als ich damit fertig war und mich erhob, stand er vor mir und sah mich in ängstlicher Spannung an. ›Ich habe mir Ihren Namen notiert‹, sagte ich zu ihm, ›nun, und auch alles übrige: den Ort, wo Sie angestellt waren, den Namen Ihres Gouverneurs und die Daten. Ich habe einen Bekannten, noch von der Schule her, er heißt Bachmutow; dessen Onkel ist der Wirkliche Staatsrat Peter Matwejewitsch Bachmutow, der als Departementsdirektor ...‹

      ›Peter Matwejewitsch Bachmutow!‹ rief mein Mediziner, zitternd vor Aufregung. ›Aber das ist ja gerade der Mann, von dem fast alles abhängt!‹

      Tatsächlich nahm die Geschichte meines Mediziners, an deren weiterer Entwicklung ich, durch den Zufall veranlaßt, mitwirkte, nun einen so glücklichen Gang, als ob alles dazu sorgsam vorbereitet gewesen wäre, ganz wie in einem Roman. Ich sagte diesen armen Leuten, sie sollten sich bemühen, auf mich keinerlei Hoffnungen zu setzen; ich sei selbst nur ein armer Gymnasiast (ich setzte mich selbst absichtlich herunter; ich hatte das Gymnasium schon längst absolviert und war nicht mehr Gymnasiast); es habe keinen Zweck, ihnen meinen Namen anzugeben; aber ich würde mich sofort nach der Wasili-Insel zu meinem Kameraden Bachmutow begeben, und da ich zuverlässig