Zu derselben Zeit, das heißt um die Zeit, als Surikow sein Kind ›erfrieren ließ‹, Mitte März, besserte sich ohne sichtbaren Grund mein Befinden auf einmal erheblich, und das dauerte etwa vierzehn Tage. Ich fing an auszugehen, am häufigsten in der Abenddämmerung. Ich liebte diese Tageszeit im März, wo es anfängt, kalt zu werden und das Gas angezündet wird; ich machte manchmal weite Wege. Einmal überholte mich in der Schestilawotschnaja-Straße in der Dunkelheit ein ›den besseren Ständen angehöriger‹ Herr; ich konnte ihn nicht genauer sehen; er trug etwas in Papier Eingewickeltes und hatte einen kurzen, unschönen Paletot an, der für die Jahreszeit zu leicht war. Als er bei einer Laterne vorbeikam, die sich in einer Entfernung von ungefähr zehn Schritten vor mir befand, bemerkte ich, daß ihm etwas aus der Tasche fiel. Ich beeilte mich, es aufzuheben – und es war die höchste Zeit, da bereits ein Mann in einem langen Kaftan hinzusprang; als dieser aber den Gegenstand in meinen Händen erblickte, machte er ihn mir nicht streitig, warf nur einen eiligen Blick danach hin und schlüpfte vorbei. Dieser Gegenstand war eine große, lederne, altmodische, ganz vollgestopfte Brieftasche; aber ich vermutete, ich weiß nicht woher, gleich beim ersten Blick, daß alles mögliche darin sei, nur kein Geld. Der Passant, der die Brieftasche verloren hatte, ging bereits etwa vierzig Schritte vor mir, und ich verlor ihn in der Menge bald aus dem Gesicht. Ich fing an zu laufen und ihm nachzurufen; aber da ich nichts weiter rufen konnte als ›He!‹, so drehte er sich nicht um. Auf einmal bog er nach links in den Torweg eines Hauses ein. Als ich in den Torweg hineinlief, in dem es sehr dunkel war, war niemand mehr da. Das Haus war von gewaltiger Größe, eines jener Riesenbauwerke, wie sie von Spekulanten mit lauter kleinen Wohnungen errichtet werden; in manchen derartigen Häusern gibt es bis zu hundert Wohnungen. Als ich durch den Torweg lief, kam es mir so vor, als ob in dem hinten rechts befindlichen Winkel des riesigen Hofes ein Mensch ginge, wiewohl ich es in der Dunkelheit kaum unterscheiden konnte. Ich lief nach jenem Winkel hin und sah einen Eingang mit einer Treppe. Die Treppe war eng, sehr schmutzig und ganz ohne Beleuchtung; aber ich hörte, daß oben ein Mensch noch die Stufen hinaufstieg, und begann ebenfalls hinaufzusteigen, indem ich darauf rechnete, ihn einzuholen, während ihm irgendwo eine Tür werde geöffnet werden. So ähnlich kam es denn auch. Die Treppen waren zwar sehr kurz, aber sehr zahlreich, so daß ich furchtbar außer Atem kam; im fünften Stock wurde eine Tür geöffnet und wieder zugemacht, das merkte ich, als ich noch drei Treppen tiefer war. Während ich hinauflief, auf dem Treppenabsatz wieder Atem schöpfte und die Klingel suchte, waren mehrere Minuten vergangen. Endlich öffnete mir eine Frau, die in einer winzigen Küche einen Samowar anblies; sie hörte schweigend meine Fragen an, verstand natürlich nichts davon und öffnete mir schweigend die Tür zu dem anstoßenden Zimmer, einem ebenfalls kleinen, furchtbar niedrigen Raum; hier standen nur die notwendigsten Möbel, und zwar von sehr schlechter Art, und ein gewaltiges, breites, mit Vorhängen versehenes Bett, auf welchem ›Terentjitsch‹ (so rief ihn die Frau) lag, wie mir schien, in betrunkenem Zustand. Auf dem Tisch brannte ein Lichtstümpfchen in einem eisernen Nachtleuchter; auch stand dort eine fast geleerte Flasche Branntwein. Terentjitsch brummte, ohne aufzustehen, mir etwas zu und wies mit der Hand nach einer Tür; die Frau war weggegangen, so daß mir weiter nichts übrigblieb, als diese Tür zu öffnen. Das tat ich denn auch und trat in das folgende Zimmer.
Dieses Zimmer war noch schmaler und enger als das vorhergehende, so daß ich nicht einmal wußte, wie ich mich darin umdrehen sollte; ein schmales, einschläfriges Bett in der Ecke nahm einen großen Teil des Raumes in Anspruch; von andern Möbeln war weiter nichts vorhanden als drei einfache Stühle, die mit allerlei Lumpenkram bepackt waren, und ein ganz einfacher hölzerner Küchentisch vor einem alten Wachstuchsofa, so daß man zwischen dem Tisch und dem Bett kaum durchgehen konnte. Auf dem Tisch brannte ein Talglicht auf einem ebensolchen Leuchter wie im ersten Zimmer, und auf dem Bett quäkte ein ganz kleines Kind, nach dem Schreien zu urteilen vielleicht erst drei Wochen alt; eine kranke, blasse, anscheinend noch junge Frau in tiefem Negligé, die vielleicht nach der Entbindung eben erst wieder angefangen hatte aufzustehen, war damit beschäftigt, das Kind mit trockenen Windeln zu versehen; aber das Kind wollte sich nicht beruhigen und schrie in Erwartung der mageren Mutterbrust weiter. Auf dem Sofa schlief ein anderes Kind, ein dreijähriges Mädchen, das, wie es schien, mit einem Frack zugedeckt war. Am Tisch stand der Herr in einem sehr abgetragenen Rock (den Paletot hatte er schon ausgezogen, und dieser lag auf dem Bett) und wickelte ein blaues Papier auseinander, in welches zwei Pfund Weißbrot und zwei kleine Würste eingeschlagen waren. Auf dem Tisch stand außerdem eine Teekanne mit Tee; auch lagen dort ein paar Stücke Schwarzbrot umher. Unter dem Bett schaute ein offener Koffer hervor, desgleichen zwei Bündel mit alten Kleidern.
Kurz, es herrschte eine furchtbare Unordnung. Ich hatte auf den ersten Blick den Eindruck, daß sie beide, sowohl der Herr als die Dame, von besserem Stand, aber durch die Armut in jenen erniedrigenden Zustand versetzt waren, in dem die Unordnung schließlich jeden Versuch, gegen sie anzukämpfen, niederschlägt und es den Menschen sogar zu einem schmerzlichen Bedürfnis macht, in dieser täglich wachsenden Unordnung selbst ein gewisses bitteres und sozusagen rachsüchtiges Gefühl des Vergnügens zu finden.
Als ich eintrat, war dieser Herr, der ebenfalls erst kurz vor mir hereingekommen war und seine Lebens mittel auswickelte, mit der Frau in schnellem, lebhaftem Gespräch begriffen; obwohl diese noch mit dem Trockenlegen des Kindes beschäftigt war, hatte sie doch bereits zu jammern angefangen; denn die Nachrichten, die der Mann mitgebracht hatte, waren offenbar wie gewöhnlich schlecht gewesen. Das magere Gesicht dieses der äußeren Erscheinung nach etwa achtundzwanzigjährigen Mannes zeigte eine bräunliche Farbe und war umrahmt von einem schwarzen Backenbart mit glatt ausrasiertem Kinn; es machte mir einen recht anständigen, sogar angenehmen Eindruck; die Miene war ingrimmig, aber mit einer krankhaften Beimischung von sehr reizbarem