Eine schräge Geschichte, die böse endet. Stefan G. Wolf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan G. Wolf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754189276
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eine schwarze Wand aufbaute. Das muss kurz vor Genoa Bluff gewesen sein, und ich verfluchte Des Moines, denn eigentlich sollten wir schon viel weitergekommen sein. »O je«, sagte ich, »von wegen Rainbow, wie’s aussieht, fahren wir direkt in ein Unwetter.« Es war gespenstisch, rechts und links und hinter uns brannte die Sonne, die abgeernteten Mais- und Weizenfelder glänzten in ihrem Schein, und vor uns hatte irgendetwas alles Licht aufgesaugt.

      »Nein, Laury«, erwiderte Taleesha ernst, »wir fahren nicht hinein, es kommt auf uns zu«. Jetzt sah ich es auch, halbrechts löste sich ein Streifen, der noch dunkler war als das dunkle Schwarz, das ihn umgab, und der von der Erde bis in den Himmel reichte. Er bewegte sich in unsere Richtung, bis er auf eine halbe Meile herangekommen war. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen: Eine Wolkensäule, vielleicht hundert Meter im Durchmesser, die sich mit rasender Geschwindigkeit um sich selbst drehte. »Ein Tornado«, sagte Taleesha mit Ehrfurcht in der Stimme, »Laury, wir müssen hier raus«.

       »Ich kann doch nicht hier stehen bleiben, mitten auf der Landstraße«, wandte ich ein, aber sie war schon draußen und rannte zum Straßengraben. Die Wolkensäule war jetzt ganz nah. Sie hielt kurz an der Landstraße an, als sei sie sich nicht sicher, ob sie Vorfahrt hat, und kam dann direkt auf uns zu. Ich sprang Taleesha hinterher und warf mich auf sie in den Graben. Irrigation ditch, dachte ich – verrückt, welche Wörter aus dem Schulunterricht einem manchmal noch so einfallen. Wenn ich irrigation ditch denke, dann denke ich gleichzeitig immer auch an den Französisch-Kurs: fièvre paludienne, werde ich nie brauchen, aber auch nie vergessen. Kann sein, wenn ich mal wieder einen Tornado sehe, werde ich denken: irrigation ditch, fièvre paludienne. Was das Gehirn so mit einem macht …

       Auf einmal war er da. Ich weiß nicht, wie ich das jetzt beschreiben soll: Ich bebte, ich glaube, das trifft’s am besten, alles in und an mir bebte, dann fand ich mich plötzlich neben dem Graben im Feld, alles war gelb vom trockenen Staub, dann wurde ich auf die Knie gehoben und es war still. Erst in diesem Augenblick merkte ich, welch einen Höllenlärm aus der Wolkensäule gekommen war, wie Propellermotoren einer ganzen Flugzeugarmada. Doch jetzt war es still – kein Laut, kein Wind, kein Stäubchen bewegte sich. Ich stand auf. Etwa zehn Meter weiter sah ich Taleesha, sie blickte nach oben, und ich folgte ihrem Blick. Wir standen inmitten einer Wolkenkathedrale, deren Wände sich um uns drehten, unten schwarz, dann allmählich heller werdend, bis sie in strahlendem Weiß den Himmel berührten. Der schaute in einem makellos hellen Blau zu uns herunter, das Blau, wie ihn der Mantel der Gottesmutter auf manchen Gemälden hat, so ein Alles-wird-gut-Blau, ein Wohlfühl-Blau, ein Willkommen-im-Paradies-Blau. Ich hatte einen starken Verdacht, aber noch schienen wir zu leben.

      Das Blau des Himmels hatte etwas Tröstliches, Verheißungsvolles, denn hier unten waren alle Farben verschwunden, und das nicht nur in irgendeinem übertragenen Sinn, sondern ganz real. Taleesha war schwarz und ihre Augen weiß mit einem schwarzen Klecks in der Mitte, meine Hände und Arme waren grau, grau waren unsere Kleider, grau der Boden unter unseren grauen Schuhen, als hätte plötzlich jemand mitten im Film von Technicolor auf Schwarz-Weiß umgeschaltet.

      Und dann sahen wir sie beide zur gleichen Zeit, und sie sah uns. Etwa fünfzig Meter entfernt, mitten in dieser Halle des Lichts und der Stille, stand ein Mädchen. Es war etwa sechszehn oder siebzehn Jahre alt, auch wenn es auf den ersten Blick jünger ausgesehen hatte, wohl weil es so kindisch angezogen war und seine Haare in zwei dicken Zöpfen über die Schultern fielen, und wohl auch, weil es still vor sich hin weinte. Taleesha lief hinüber, nahm es in den Arm, und ich ging auf die beiden zu.

      »Ist das hier Kansas?«, fragte das Mädchen.

      »Nein, ich glaube, wir sind in Iowa«, sagte ich ernsthaft, obwohl ich wusste, dass das jetzt nicht wirklich wichtig war.

      »Iowa?«, wiederholte sie erschrocken und schaute sich um, als wollte sie überprüfen, ob sie mir Glauben schenken dürfte.

      Da hörten wir diese Klänge, ein gewaltiges Brausen erhob sich, und ganz klar konnte man einzelne Töne vernehmen, die ineinander übergingen, es klang fast wie eine gewaltige himmlische Glasharmonika. Ich werde die Melodie nie vergessen, eigentlich waren es nur gebrochene Akkorde, und jetzt, im Rückblick, kann ich sagen, dass sie den Anfangstakten von Stairway To Heaven verdammt ähnlich waren. Ich habe versucht herauszufinden, wo Jimmy Page Anfang September 1961 war, aber da ging er wohl noch zur Schule. Die Musik klang überirdisch, sie war überall, füllte diese Kathedrale, und als ich nach oben blickte, glaubte ich zu sehen, dass sie sogar das Marianische Blau ein wenig verschleierte.

      Da packte mich Taleesha am Arm und schüttelte mich. »Wir müssen uns auf den Boden legen und ganz dicht beieinanderbleiben«, schrie sie mich an. »Wenn sich der Tornado weiterbewegt, müssen wir uns so gut wie möglich sichern.« Wir fanden den Straßengraben wieder und schmiegten uns an die Erde, unter mir Taleesha, unter ihr das Mädchen, und alle mit ineinander verschränkten Armen und Beinen. Dann begann der Hölle zweiter Teil, die Erde bebte, und ich hatte das Gefühl, dass mir alle Glieder ausgerissen würden. Dann wurde es ruhiger, ein starker Sturm blies übers Feld, der sich schnell legte, das Donnern wurde zu einem Brausen, zu einem Sausen, einem Säuseln. Stille.

      Wir setzen uns auf und entfernten Staubkörner und Strohhalme, so gut es ging, aus den Haaren und von den Kleidern. »Wie es wohl Tante Emily geht?«, fragte das Mädchen, das jetzt seine Farbe zurückgewonnen hatte. Ihr Haar war mittelbraun, sie trug ein blaues Trägerkleid, eine weiße Bluse und ihre Füße steckten in blauen Söckchen und roten Schuhen.

      »Tante Emily?«, fragte Taleesha zurück.

      »Ja, die Tante in Good Intent.«

      »Was ist Good Intent?«, fragte ich.

      »Das ist da, wo wir wohnen, Tante Emily, Onkel Henry, ich, Hunk, Hickory, Zeke, das heißt Good Intent.«

      Ich betrachtete sie eingehend, und ich schwöre, sie war ziemliche siebzehn, ganz anders als ihre Frisur und ihre Kleider Glauben machen wollten. »Und du bist?«, fragte ich.

      »Dorothy«, gab sie zur Antwort und schaute beschämt unter sich.

      »Was ist passiert?«

      »Ich weiß nicht, ich kann mich nicht erinnern. Ich denke, ich bin weggelaufen.«

      »Von Tante Emily?«

      »Ja, nein, mehr von Onkel Henry.« Sie schaute kurz auf, um sich unserer Reaktion zu vergewissern.

      »Dein Onkel Henry, hat er …?« Sie zuckte nur heftig mit den Schultern. »Hat er dir etwas getan?« Dorothy schaute weiter nur unter sich.

      »Plötzlich kam Sturm auf«, nahm sie ihre Erzählung wieder auf, »und dann …« Sie schaute wie zur Erklärung um sich. Überall im Feld und auf der Straße lagen Trümmerteile und in der Ferne drehte sich die schwarze Wolkensäule Richtung Carnforth weiter.

      »Und jetzt?«, fragte ich in die Runde, und Taleesha sagte munter: »Jetzt bringen wir die Kleine erst mal wieder nach Hause.«

      »Nein!«, schrie das Mädchen panisch, und das anschließende Schweigen war lauter als ihr Aufschrei.

      »Wir müssen weiter nach New York«, gab ich zu bedenken, doch sie nickte nur.

       »New York ist gut, alles klar, New York!« Dann zog sie geräuschvoll die Nase hoch.

      Ich gebe zu, dass wir in dieser Situation alle ein klein wenig überfordert waren. Ist erst mal ein Tornado über dich hinweggegangen, dann funktioniert im Kopf nicht mehr alles so, wie es sollte. Ich stand auf und schaute mich um, wo ich den Wagen und den Trailer geparkt hatte. Den Travelette fand ich ein wenig abseits der Straße im Feld, und er schien so weit in Ordnung zu sein. Doch der Wohnwagen war verschwunden, nur die Tür mit dem Aufkleber Come In To Be Outside lag ein paar Meter vom Auto entfernt. ›Oh je‹, dachte ich, ›jetzt regnet es irgendwo Blech und Plastik und Würstchen mit Kartoffelsalat‹.

      Ich bugsierte die Karre zurück auf die Straße, auf der es jetzt fast so aussah wie auf der Piste durch die Wüste vor ein paar Tagen. Als ich wieder zu den beiden anderen stieß, hörte ich, wie Taleesha sagte: »Aber du musst doch wieder nach Hause!«

      »Ich will aber nicht zurück in das Good Fucking Intent«,