»Aber wie bist du bis hierher … ich meine: Wir sind hier in Ohio?« Dorothy sagte O-HAI-OOH und machte aus dem Namen eine lustige kleine Melodie. Doch Hunk schob nur die Kleiderbügel in seinen Schultern nach oben. »Das Wichtigste ist doch, dass wir uns wiederhaben.«
»Oh ja«, Dorothy strahlte und gab ihm einen Kuss auf die stoppelbärtige Wange. »Wir fahren nach New York«, sagte sie, und Hunk machte »Hmm, hmm.« Dann dachte er einen langen Moment nach, bis er das Ergebnis verkündete. »Ich kenne da niemand. Und dann gibt’s da ja auch keine Farm, ich glaube, die kommen ganz ohne Farmer aus.«
»Oh, du, da mach dir mal keine Gedanken«, plapperte Dorothy, »wir finden schon was. Ich hab’ da einen Onkel, bei dem können wir doch erst mal bleiben.«
»Noch’n Onkel?«, entfuhr es Hunk argwöhnisch.
»Nicht so einer wie Onkel Henry«, beeilte sich Dorothy den unausgesprochenen Einwand zu entkräften.
»Was ist mit Onkel Henry verkehrt?«, mischte ich mich ein, in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein bisschen mehr über die Affäre Henry zu erfahren.
Dorothy presste die Lippen aufeinander und schaute Hunk unverwandt an. Der löste endlich seinen Blick und wandte sich uns zu. »Henry hat seine Hände überall, wo sie einfach nicht hingehören. Kommt sonntags aus der Kirche und nimmt die Kleine zum Spaziergang ins Maisfeld mit. Badet so gern mit ihr, wenn Tante Emily bei den Sisters of Mercy zum Patchworken ist. Lass mich, Dorothy, das muss jetzt gesagt werden.« Er schüttelte ihre Hand ab, die sie beschwichtigend auf seinen Arm gelegt hatte. »Wir sprechen das jetzt einmal aus, und dann denken wir nie wieder an ihn. Hat ihre Muschi geleckt, da hatte ich noch nicht gewagt, ihr einen Kuss auf die Wange zu geben, und sein Ding …« Da schoss Dorothys Hand vor und hielt ihm den Mund zu.
»Ist alles vergessen«, rief sie aufgebracht und in einem fast fröhlichen Singsang und schüttelte ihren Kopf mit geschlossenen Augen, »alles vergessen, alles vergessen. Jetzt gehöre ich nur dir, verstehst du, ich bin deine Dorothy, dein sauberes Mädchen. Alles vergessen.« Sie schaute uns an und nickte heftig. »Alles vergessen!« Das duldete keinen Widerspruch.
Wir fuhren ein Stück weiter, da gibt es hinter Holiday City ein kleines Wäldchen, dort haben wir übernachtet, die zwei Frauen vorne und Hunk und ich hinten auf der Ladefläche. Ich hatte noch Segeltuch, in das haben wir uns eingewickelt, ging schon, ich habe sogar geträumt, aber darüber will ich jetzt nicht reden.
New York! New York!
»Weißt du denn, wo dein Onkel wohnt, ich meine, der andere?«, fragte ich nach hinten, als wir am nächsten Morgen weiter ostwärts fuhren. Hunk saß neben mir und klaubte Kletten aus seiner Hose, die beiden Damen wie üblich hinten.
»So ein bisschen«, antwortete Dorothy unbestimmt.
»Und?«, bohrte ich weiter.
»Das muss Yellow Brick Road heißen, oder die Straße ist mit gelben Ziegelsteinen gepflastert, weiß nicht, eins von beiden. Tante Emily hat von ihm erzählt, er ist ihr Stiefbruder, aber Stiefbruder ist nichts Schlimmes, das ist ganz normal, viele Leute haben Stief«, beeilte sie sich anzufügen.
»Und wie heißt er?«
»Onkel Ozzy. Er ist Zauberer, also natürlich kein richtiger Zauberer wie im Märchen.« Dorothy kicherte ihr Kleinmädchen-Kichern, das mit den Zöpfen. »Er tritt auf«, sagte sie, und es klang gerade so, als hätte sie nicht den blassesten Dunst, was das heißen könnte: auftreten.
»Du kannst ja vielleicht seine Assistentin werden«, schlug Taleesha vor. »Viele Zauberer haben Assistentinnen, und die meisten sind noch nicht mal so hübsch wie du!«
»Was macht denn ’ne Sistentin?«, fragte Dorothy und kaute auf der Unterlippe.
»Eine As-sistentin, also, die hilft dem anderen, also dem Chef oder wem sie halt assistiert.«
»Ich glaube, Onkel Ozzy braucht keine As-sistentin, der braucht niemanden, der ihm beim Zaubern hilft«, beeilte sich Dorothy um Klarstellung.
Irgendwo war ich falsch abgebogen und fand mich irgendwann, weil ich abkürzen wollte, auf Nebenstraßen von Nebenstraßen wieder. Nach den endlosen, menschenleeren Weiten in Gelb-Braun-Grün war die Fahrt durch die Appalachen die reinste Achterbahnfahrt, na ja, vielleicht auch eine Geisterbahnfahrt, wenn ich an die Typen in den Diners, Tankstellen und Cafés denke. In der letzten Nacht vor New York haben wir dann in einem Motel übernachtet, damit wir wenigstens sauber geduscht in der Stadt ankamen. Ich war ja der einzige, der in den vergangenen Tagen Wasserberührung gehabt hatte, und das nur wegen dieser Folge-dem-Rabbi-Geschichte.
Das Motel in der Nähe von Hemlock Glen nannte sich Grandview Comfort Inn Suites, Grandview weil die riesigen alten Eiben, die ihre Zweige bis in die Fenster streckten und für 24/7 Dämmerung sorgten, den Ausblick auf das Zementwerk im Tal gnädig verbargen, Comfort, weil jedes Zimmer über einen Kunstledersessel unbestimmter Farbe verfügte, Inn, weil in der Anmeldung ein mannshoher Automat Käsesandwichs, Snickers und Root Beer bereithielt, und Suites, weil jedes Zimmer eine Verbindungstür zu den beiden Nachbarzimmern besaß, so dass man, wenn man bereit war, alle Zimmer zu buchen, eine Wohnfläche zur Verfügung hatte, die nahe an die der Präsidentensuite im Waldorf Astoria heranreichte.
Die alte Dame an der Anmeldung war nett, sie nahm wirklich Anteil am Leben ihrer Gäste, fragte nach dem Woher und Wohin, den verwandtschaftlichen Banden, die uns aneinander schmiedeten, womit wir unseren Lebensunterhalt verdienten und welcher Konfession wir anhingen. Und zu jeder unserer Antworten wusste sie ein Erlebnis, eine Beurteilung oder eine Lebensweisheit beizutragen. Dabei verband sie überraschend tiefgründige Allgemeinbildung mit hanebüchenen Aussagen. »Ah, Dänemark«, sagte sie, »da habt ihr doch diesen Hamlet: Sein oder Nichtsein …« Ich war einigermaßen erstaunt, bis sie mich fragte: »Und, hat er sich schon entschieden?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, stellte sie Hunk in Sachen Mähdrescher auf die Probe: »Gleaner, John Deere oder Case IH? Na ja, so was wie Hangausgleich braucht ihr in Kansas ja nicht, da ist ja alles so flach wie das Fräuleinchen hier«, und sie kniff Dorothy in die Wange, nur um im selben Atemzug Taleesha um ihre Stimme zu beneiden: »Schwarze Baptistenfrauen haben die schönsten Stimmen«, stellte sie fest. Doch dann sang sie selbst mit ihrer dünnen, klirrenden Altweiber-Stimme: »Ring the bells of heaven, there is joy today.«
Mit der Zimmerverteilung hatte sie ihre liebe Not: Sie konnte ja wohl kaum zulassen, dass wir Männer mit je einer der Frauen ein Zimmer teilten (in welcher Kombination auch immer), noch konnte sie es über sich bringen, dass Taleesha und Dorothy die Nacht gemeinsam verbrachten, weil das bedeutete, dass wir Männer unter einer Bettdecke stecken würden. Das war wohl ihr Schicksal: Immer musste sie zwischen zwei gleich schlechten Alternativen entscheiden, das machte sie völlig fertig. Überließ sie ihrer Stieftochter sonntags die Anmeldung, konnte sie sicher sein, dass einige Zehn-Dollarscheine in die falsche Tasche wanderten; sie hatte sogar den Verdacht, dass noch der eine oder andere Zehner dazukam, wenn sie alleinreisenden Männern das Zimmer und seine Annehmlichkeiten zeigte. Kümmerte sie sich selbst um die Gäste, konnte sie aber ihren Enkel nicht sehen. Oder: Ließ sie die Leuchtreklame an der Straße nachts ihre Botschaft verkünden
The shades of the yew
guard your sleep in Grandview
kostete sie das genau soviel Stromgeld, wie sie verdiente, wenn die Lichter noch ein, zwei Gäste anzogen. So war das immer, und so wie ich sie einschätzte, wusste sie sogar, dass man das Dilemma nennt.
»Wissen Sie was, Rosemary«, sagte ich, um der Rumdruckserei ein Ende zu machen, »wir nehmen nur ein Zimmer und passen alle schön aufeinander auf«. Das hatte sie jetzt davon, und für uns war ein Kingsize-Bett allemal ausreichend. Hunk