Es vergeht kein Tag, an dem er sich dies nicht vorwirft, sich selbst einen Feigling nennt, ja sich sogar dafür hasst. Doch er kann nicht anders. Die Alternative wäre, dieses Kind, sein Kind, jeden Tag sehen zu müssen, jeden Tag vor Augen geführt zu bekommen, was er verloren hat, übersteigt seine Kraft, er hat Angst davor, daran zu zerbrechen.
Im Moment sitzt er mit seinem Vorgesetzten in einem Münchner Biergarten und Kriminalhauptkommissar Brenner staucht Max zusammen, weil dieser bei dem eben abgeschlossenen Fall, sein Leben riskiert hat. In Brenners Augen völlig unnötig, was diesen auf die Idee bringt, dass Max, im wahrsten Sinne des Wortes, lebensmüde ist.
>>Wolltest du sterben?<<
KHK Brenner sieht Max durchdringend an.
>>Ich kann dir keinen neuen Fall übertragen, wenn ich damit rechnen muss, dass du wie ein wilder Stier durch die Gegend rennst, dich ohne Rücksicht in Gefahr begibst. Du gefährdest dadurch nicht nur dich, sondern auch das Leben deines Partners.<<
>>Ich arbeite allein<<, wirft Max genervt ein.
>>Du weißt sehr genau was ich meine<<, weißt Brenner ihn zurecht.
>>Risikobereitschaft gut und schön, doch du hättest diesen Fall beinahe zum Scheitern gebracht, mit deiner Entscheidung, den Täter frontal anzugreifen. Davon mal ganz abgesehen, dass du meine Anweisungen nicht befolgt hast. Wie soll ich weiter mit dir zusammenarbeiten, wenn dein Verhalten unberechenbar ist? Wir arbeiten im Team Max, wenn dir das nicht mehr möglich ist, dann sag es jetzt. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dir einen Partner zur Seite zu stellen, wenn du dich nicht im Griff hast. Du weißt, dass ich sehr froh bin, dich wieder in unserer Abteilung zu haben, du warst und bist immer noch mein bester Mann. Verdammt, rede endlich mit mir, was ist mit dir los?<<
Als Max nach Deutschland zurückkam um seine alte Stelle wieder anzutreten, hat er seinen Chef über seine Beweggründe im Unklaren gelassen und hatte auch nicht vor, ihm mehr zu sagen, als dass seine geliebte Nicole verstorben und er deshalb wieder zurück gekommen ist, doch jetzt bricht es aus ihm heraus. Mit einem Mal ist der Schmerz so übermächtig und der Drang sich jemandem mitzuteilen so groß, dass er seinem Vorgesetzten alles erzählt, was in den letzten Wochen vorgefallen ist.
>>Als wir uns, vor meinem Weggang, das letzte Mal sahen<<, beginnt Max leise mit seiner Erzählung, >>hast du mir erklärt, dass ich mich an Nicole wenden muss, wenn ich meine Schwester lebend wieder sehen möchte. Du hast keine Ahnung, wie recht du hattest. Deine Informationen stammten damals vom MAD, dem militärischen Abschirmdienst, deshalb gehe ich davon aus, dass du weißt, dass Nicole eine Mutantin ist.<<
Das zustimmende Nicken seines Chefs quittiert Max mit einem leichten, traurigen Lächeln und fährt fort. >>Nicole ist aber nicht der einzige Mutant, in den letzten Monaten sind wir auf mindestens einen weiteren gestoßen, was Nicole völlig aus der Fassung gebracht hat. Sie wollte das Mädchen unbedingt befreien, denn dass sie nicht freiwillig bei dem russischen Arzt lebt, das stand für sie außer Frage. Ein fataler Fehler, wie wir leider zu spät feststellen mussten. Eine Handvoll Leute flogen nach Russland, im Grunde wegen einer anderen Sache, doch ich wusste, Nicole geht es einzig und allein um dieses Mädchen. Unsere Einreise blieb nicht unbemerkt und wir waren kaum in Russland angekommen, da wurden wir überfallen, Nicole getötet und entführt, ich schwer verwundet.<< Der letzte Satz ist nur noch ein Flüstern, der Schmerz überwältigt Max so brutal, dass er kaum noch atmen kann.
>>Ich schaffe es einfach nicht, mit dem Tod von Nicole fertig zu werden. Das Leben hat jeden Sinn, jede Freude für mich verloren. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dem Wissen weiterleben soll, sie nie mehr wieder zu sehen und als ob dies nicht schon schlimm genug wäre, so mache ich mir die größten Vorwürfe, dass ich die Nähe meiner Tochter nicht ertrage. Ich bin hierher nach Deutschland geflüchtet, weil ich es nicht schaffe, meine Tochter auch nur anzusehen. Sie sieht aus wie Nicole, bis auf ihre Augenfarbe, die ich ihr vererbt habe, sehe ich in das Gesicht meiner verlorenen Liebe, sobald ich das Kind ansehe. Ich bin ein solch erbärmlicher Feigling<<, schließt Max mit zitternder Stimme.
Tief betroffen von dem Geständnis seines Untergebenen, fehlen KHK Brenner zunächst die Worte. Er kann die Verzweiflung von Max fast körperlich spüren und möchte ihm gern helfen, seinen Schmerz wenigstens ein klein wenig lindern.
>>Nichts, was ich dir sagen könnte, würde deinen Verlust auch nur ein bisschen erträglicher machen<<, beginnt Brenner einfühlsam, >>ich kann ihn wahrscheinlich nicht einmal ansatzweise nachempfinden, doch eines weiß ich sicher Max, du musst dich um deine Tochter kümmern. Du wirst es dir niemals verzeihen, wenn du jetzt deiner Angst nachgibst und dich davor fürchtest in ihrer Nähe zu sein. Du bist kein Feigling, Max, ich kenne dich seit Jahren. Nicht der ist mutig, der keine Angst kennt, oder tollkühn in eine Gefahr läuft, nein Max, Mut ist, wenn man seine Angst überwindet und ich weiß, dass du dies kannst. Du hast mir bei deiner Rückkehr davon erzählt, dass dir deine Tochter jeden Tag fehlt, sei mutig Max, lass dich von deiner Angst nicht lähmen. Ich lasse dich zwar sehr ungern gehen<<, gesteht KHK Brenner lächelnd ein, >>aber wenn du möchtest, kann ich etwas in die Wege leiten.<<
Den fragenden Blick von Max ignorierend fährt Brenner fort.
>>Mir liegt seit zwei Wochen eine Anfrage aus Linz vor, darin geht es um ein Austauschprogramm, im Rahmen der Völkerverständigung<<, grinst der Kriminaler.
>>Ein Beamter von uns geht für ein Jahr befristet nach Linz und wir bekommen im Aus-tausch einen von ihnen. Ich musste sofort an dich denken, als mir diese Anfrage auf den Tisch flatterte, wollte nur das Ende dieses Einsatzes abwarten und dich dann fragen, ob das was für dich wäre.<<
Erstaunt und völlig überrascht fehlen Max die Worte.
>>Na, was sagst du<<, fordert KHK Brenner Max auf, >>ein ja genügt mir völlig<<, fügt er grinsend hinzu.
>>Du bist ein wahrer Freund<<, erwidert Max völlig überwältigt. >>Ich gehe nur sehr ungern hier weg, doch ich muss, meine Angst ist sehr groß, doch die Sehnsucht nach meiner Tochter ist um vieles stärker. Ich weiß nicht, wie ich dir jemals danken soll.<<
ACHT
Lisa sitzt im Wohnzimmer des großzügigen Hauses im österreichischen Ort Glanz und beobachtet traurig, wie die Abendsonne rot glühend hinter den Bergen des Hohe Tauern Gebirges untergeht.
Es betrübt sie ungemein, dass ihr Bruder Max sich nicht von ihr helfen lassen wollte, es vorgezogen hat, vor einigen Monaten wieder zurück nach Deutschland zu gehen.
Sicher, sie kann seinen Schmerz nachvollziehen, auch sie hat monatelang getrauert, als sie dachte, er wäre bei ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft bei Dr. Maikow, gestorben. Sie weiß, wie sehr ihn der Verlust von Nicole schmerzen muss, auch sie wird kaum mit dem Verlust ihrer geliebten Freundin fertig, doch Lisa hätte ihm helfen können. Sie könnte ihm wenigstens einen Teil dieser kaum zu ertragenden,