>>Ich weiß nicht<<, erwidert Olga zweifelnd. >>Du bist fast immer ehrlich zu ihr, wenn sie sich auf einmal doch erinnert? Ich habe Angst, dass sie wieder böse wird<<, fügt das Mädchen leise hinzu.
Bevor Olga das erste Mal Kontakt mit Nicole hatte, erzählte Dr. Gagarin ihr und ihrem Bruder dass Nicole böse wäre, ihre Mutation nicht im Griff hätte und deshalb sehr gefährlich wäre. Olga steht Nicole inzwischen sehr nahe und möchte sie auf keinen Fall mehr verlieren, doch die Angst, dass sie sich verändern könnte, sobald sie sich wieder daran erinnert wer sie ist, ist immer noch gegenwärtig.
>>Du musst keine Angst vor Nicole haben<<, erwidert der Arzt freundlich und zieht Olga zu sich auf seinen Schoß. Dass er dabei eine Erektion bekommt, bleibt dem Mädchen verborgen. >>Es ist nahezu ausgeschlossen, dass sich Nicole jemals wieder an ihr Leben vor dem Kopfschuss erinnern wird. Die Verletzung hat einigen Schaden an einer Hirnregion hinterlassen, die für die Erinnerung zuständig ist. Ich habe mich mit einigen sehr guten Ärzten auf dem Gebiet der Hirnforschung unterhalten, sie gehen nicht davon aus, dass sich diese Region wieder regenerieren lässt. Mach dir bitte keine Sorgen mein Kind<<, fügt er einfühlsam hinzu, während er das Mädchen streichelt und immer fester an sich drückt. Erst als ihm bewusst wird, dass sein Atem beginnt schneller zu werden, er sichtlich immer erregter durch die Nähe des Mädchens wird, schiebt er sie sanft auf das Sofa in seinem Büro.
>>Allerdings gibt es da etwas anderes, das ich gerne mit dir besprechen möchte.<< Nikolai Gagarin gibt seiner Stimme einen besorgten Klang.
>>Mir ist zu Ohren gekommen<<, beginnt er nachdenklich, wie zu sich selbst sprechend, >>dass Major Rashkolnykow an dir und Nicole interessiert ist. Was uns im Grund nicht beunruhigen müsste, doch ich habe ferner erfahren, dass er sich an den Kreml gewandt hat und dort erklärt hätte, dass ihr Beide gefährlich wärt, man euch aus dem Verkehr ziehen müsste.<<
>>Spinnt der?<< Wirft Olga wütend ein.
>>Nun<<, gibt der Arzt zu bedenken, >>es besteht durchaus die Gefahr, dass er versuchen wird, euch Beide in seine Gewalt zu bekommen. Wer weiß, vielleicht steht er eines Tages mit einer halben Armee vor der Tür, dem habe ich nichts entgegen zu setzen, ich weiß wirklich nicht, wie ich euch dann schützen soll<<, gibt sich der Arzt zerknirscht.
>>Wir müssen etwas gegen den Mann unternehmen<<, ereifert sich das Mädchen, >>ich möchte nicht von Nicole getrennt werden, auch von dir möchte ich nicht weg<<, fügt Olga den Tränen nahe hinzu.
Innerlich jubelnd, dass er das Mädchen genau dort hat, wo er es haben will, gibt sich der Arzt zerknirscht. >>Uns bleibt nur eine einzige Möglichkeit und das möchte ich dir eigentlich nicht antun.<<
>>Sag schon, was können wir tun?<<
>>Ihr müsst euch den Major schnappen und ihn töten.<<
Fassungslos sieht das Mädchen den Arzt an, schüttelt langsam und nachdenklich den Kopf, sodass Nikolai kurz Zweifel kommen, doch dann sieht er dem Mädchen direkt an, wie sie sich innerlich aufrichtet und ihm direkt in die Augen blickt.
>>Du hast recht Nikolai, uns wird wohl nichts anderes übrig bleiben. Nicole und ich haben uns schon einmal darüber unterhalten, dass es durchaus möglich ist, dass wir auf Menschen treffen können, die sich von uns als Mutanten bedroht fühlen und wir haben hin und her diskutiert, wie wir in einem solchen Fall reagieren sollen<<, setzt das Mädchen nachdenklich hinzu.
>>Jetzt stehen wir schneller vor diesem Problem, als wir dachten.<<
SECHS
>>Wir sehen Beide in der Nacht ebenso gut wie am Tag, warum also schleichen wir jetzt, wo unzählige Leute uns sehen können um dieses Gebäude herum?<< Olga ist sichtlich genervt, was auf ihre Unsicherheit und Nervosität schließen lässt.
>>Beruhig dich<<, erwidert Nicole leise.
>>Nikolai hat uns die Pläne des Geländes und der Gebäude darauf überlassen, doch ich fühle mich sicherer, wenn ich mir die Anlage schon einmal bei Tageslicht ansehen kann. Jetzt sind auch die Tore geöffnet, sodass wir ungehinderten Zugang haben. Wenn wir nachts wiederkommen, können wir uns viel besser orientieren, da wir dann bereits wissen, wo sich zumindest die Gebäude innerhalb der Anlage befinden.<<
Während ich Olga aufkläre, warum ich mir alles bei Tageslicht ansehen möchte, kommt mir mein Verhalten plötzlich sehr bekannt vor. Ganz sicher erlebe ich eine solche Situation nicht das erste Mal. Erinnerungsfetzen tauchen auf. Ich sehe einen dichten Wald, eine hohe Einzäunung aus Holz mit Aussichttürmen und plötzlich wechselt das Bild und vor meinem inneren Auge erscheint ein Krankenhaus. Ärgerlich schüttle ich den Kopf um die verwirrenden Bilder loszuwerden und doch weiß ich instinktiv, dass dies Erinnerungen sind. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ein Objekt bei Tageslicht betrachte, welches ich dann nachts aufsuchen möchte.
Olga sieht mich verwundert an, sie hat mein Kopfschütteln bemerkt.
Zu meinem eigenen Erstaunen stelle ich fest, dass ich Olga nichts davon erzählen möchte, was gerade passiert ist. Ich vertraue ihr, keine Frage, doch irgendetwas hält mich davon ab, meine Erinnerung mit ihr zu teilen, ich lüge sie deshalb an.
>>Mir kam eben der Gedanke, dass ich dich eigentlich nicht mit nehmen möchte, meine Kleine. Ich verstehe nicht, warum Nikolai so sehr darauf besteht, dass du mit dabei sein musst.<<
>>Das hatten wir schon mal<<, erwidert Olga leicht genervt.
>>Wir wissen nicht, mit wie vielen Leuten wir es zu tun bekommen und ich muss Nikolai recht geben, wir können es nicht riskieren, dass du in deren Hände gerätst. Ich werde dabei sein und dir den Rücken decken, mir macht das auch keinen Spaß, aber haben wir eine andere Wahl? Dieser Major wird nicht locker lassen. Er will uns Beide, oder doch zumindest eine von uns. Meine Entführung ist damals fehl geschlagen, zum Glück bist du im richtigen Moment aufgetaucht. Ich habe also noch etwas gut zu machen<<, fügt das Mädchen lächelnd hinzu.
>>Du hast ja recht<<, stimme ich Olga zu, >>dennoch finde ich, dass du für eine derartige Aktion einfach noch zu jung bist. Nicht aufregen<<, unterbreche ich den Einwand von Olga im Ansatz, >>ich habe schon verstanden, du lässt es dir nicht ausreden und ich muss mich damit abfinden.<<
SIEBEN
Es gibt Tage, an denen wünscht sich Max, er hätte seine Verletzung nicht überlebt. Sie werden weniger, das stimmt, doch diese Erkenntnis hilft ihm nicht über den Schmerz des Verlustes hinweg. Seit er aus der OP erwacht ist, scheint sein Leben, wenn nicht gar sinnlos, so doch nicht mehr lebenswert.
Er existiert und er funktioniert, kein Wunsch ist mehr in ihm, er fühlt sich leer und allein. Letzteres müsste er nicht sein, die Einsamkeit hat er selbst gewählt, doch blieb ihm eine andere Wahl?
Seine Tochter