>>Lass mich dir helfen Max<<, bittet Lisa ihren Bruder mitfühlend.
>>Du musst diesen lähmenden Schmerz loslassen, er hindert dich daran, weiter leben zu wollen, glaub mir, ich weiß wie du dich fühlst. Als ich Nicole damals den Schmerz um dich nehmen durfte, konnte ich ein klein wenig von der Qual in mich aufnehmen, die Nicole in sich getragen hat. Ich bin bereit, das Selbe für dich zu tun, wenn du mich lässt<<, schließt die junge Frau leise.
Sanft nickend nimmt Max die Hände seine Schwester in die seine.
>>Fang an.<<
Lisa lehnt ihre Stirn leicht gegen die ihres Bruders, schließt die Augen und verbindet sich mit seinem Geist. Fast augenblicklich überträgt sich ein gewaltiger Schmerz, den sie, da sie damit gerechnet hat, abblockt, aber doch in sich aufnimmt. Sie überträgt einen großen Teil des Leides ihres Bruders auf sich. Vor den Gefühlen und Bildern, die dabei durch sie hindurchfließen schützt sie sich, lässt sie jedoch ungehindert durch. Es dauert nur wenige Sekunden, dann löst sie die Verbindung, ihre Augen schwimmen in Tränen, doch sie lächelt ihren Bruder an, der erstaunt seine Augen öffnet.
Der Schmerz und die tiefe, ihn in den Abgrund ziehende Verzweiflung ist fort. Er ist fassungslos vor Erstaunen. Eine tiefe Traurigkeit ist noch vorhanden, er kann sie ganz tief in sich spüren und weiß, dass er diese auch nie mehr loswerden wird, doch diese alles verzehrende Hoffnungslosigkeit ist verschwunden. Er fühlt sich, als ob er zum ersten Mal seit Monaten wieder wirklich richtig Atmen kann. Max fühlt sich von einer Last befreit, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Nur zu existieren reicht nicht, er hat eine Verantwortung, er ist Vater und mit einem Male fühlt er sich der Verantwortung auch gewachsen. Er ist weit davon entfernt, sich glücklich zu nennen, doch er spürt, dass ein kleiner Keim gelegt wurde. Ein kleiner Same, der darauf wartet größer und stärker zu werden. Unendlich dankbar lächelt er seine Schwester an.
>>Ich weiß nicht, wie ich dir dies jemals danken kann.<<
ELF
Immer wieder muss ich darüber nachdenken, warum mir die Situation der Beobachtung eines Geländes bei Tageslicht so bekannt vor kam. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu, ein gegenwärtiges Ereignis bereits einmal erlebt zu haben. Kann ich mich so täuschen, oder war dies eine reale Erinnerung? Es frustriert mich zunehmend, dass ich mit niemandem darüber sprechen kann. Etwas, das ich nicht näher benennen kann, hält mich davon ab, mich Olga oder Nikolai anzuvertrauen und auch dies ärgert mich zunehmend, denn ich mag die Beiden, sehr sogar.
Was also hält mich zurück?
Und es ist nicht nur dieses Erlebnis, in letzter Zeit fällt mir immer wieder auf, dass ich sehr viel träume. Auch kann ich mich meist sehr gut an meine Träume erinnern und im Grunde sind es ganz banale Dinge, doch eines macht mich stutzig und lässt mich immer wieder darüber nachdenken. Ich träume auf Deutsch.
Olga und Nikolai haben mir erklärt, ich wäre Russin, ich spreche diese Sprache auch fließend, des Weiteren hat Nikolai erklärt, dass ich Sprachen studiert hätte, neben meiner Muttersprache russisch, würde ich auch fließend Deutsch und mindestens einen chinesischen Dialekt sprechen.
Doch träumt man nicht in seiner Muttersprache?
Den Gedanken, dass mir nicht die ganze Wahrheit über mich erzählt wird, habe ich bis jetzt noch nicht zugelassen, doch spüre ich, dass mir immer mehr Zweifel kommen. Sind die Beiden nicht ehrlich zu mir? Doch was für einen Grund sollten sie haben, mich anzulügen? Es ist einfach nur anstrengend und frustrierend. Je besser sich mein Körper von der Operation und dem darauffolgenden Koma erholt, um so fitter wird auch mein Kopf und ich ertappe mich immer häufiger dabei, die Dinge, die mir erzählt werden zu hinterfragen.
Olga und ich sind bereits unterwegs zum Anwesen des Majors und erst jetzt kommen mir Bedenken, warum Nikolai so unbedingt wollte, dass Olga mit dabei ist. Ich habe vor, den Major zu töten und das weiß Nikolai. Das Mädchen ist für so etwas noch viel zu jung, warum hält Nikolai sie da nicht raus, was bezweckt er damit?
Ich ärgere mich sehr darüber, dass mir diese Bedenken nicht schon früher gekommen sind, jetzt ist es zu spät. Ich kenne Olga inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ich sie jetzt nicht mehr davon abbringen werde, nicht mit auf das Gelände zu kommen. Die Kleine kann verdammt stur sein.
So in Gedanken vertieft kommen wir in den frühen Morgenstunden beim Anwesen des Majors an und obwohl ich weiß, es ist sinnlos, wende ich mich an das Mädchen.
>>Mir wäre es wirklich lieber, du würdest mir hier draußen den Rücken decken.<<
>>So ein Schmarrn, was soll, das? Wir habe in allen Einzelheiten abgesprochen, wie wir vorgehen wollen, wir gehen Beide hinein. Was soll ich hier draußen decken?
Ich kann dir nur dann deinen Rücken decken, wenn ich ihn auch sehe, findest du nicht? Du willst mich nicht dabei haben, doch ich lasse dich nicht allein. Du hast mich einmal vor dem Major gerettet, jetzt bin ich dran.<<
Resigniert aufseufzend gibt Nicole sich geschlagen. Sie hatte es vorher gewusst, musst jedoch diesen letzten Versuch, so kläglich er auch war, starten.
>>Na dann los<<, fordert sie Olga auf. >>Halte dich dicht hinter mir und versuch kein Geräusch zu machen.<< Ohne darauf zu achten, ob Olga ihr folgt, schwingt sich Nicole auf die, das Grundstück umgebende Mauer, lässt ihren Blick kurz über das Gelände schweifen und legt sich dann flach hin um Olga die Hand zu reichen und ihr so auf die Mauer zu helfen. Mit Handzeichen gibt Nicole dem Mädchen zu verstehen, dass sie ihr folgen soll. Zügig, aber immer darauf bedacht kein Geräusch zu verursachen schleichen sich die Zwei an das Gebäude heran, in dem sie den Major vermuten. Da zieht Olga plötzlich an Nicoles Hand und zerrt sie hinter ein Gebüsch. Nur einen kurzen Moment später laufen zwei Soldaten, nur einige Zentimeter entfernt, an ihnen vorbei und verlassen das Grundstück.
Nicole hat die Männer nicht gehört. Olgas Gehör muss um ein Vielfaches besser sein als das ihre – unglaublich. Lächelnd streicht sie dem Mädchen übers Haar und macht die Daumen hoch Geste. Als sie sicher sein können, dass die Soldaten das Anwesen verlassen haben, setzen sie ihren Weg fort.
Konzentriert lauschen Beide darauf, wieviel Stimmen im Haus zu vernehmen sind. Wie es scheint schlafen alle Bewohner. Es sind nur Atemgeräusche zu hören, was es sehr erschwert, die Anzahl der Personen, die sich im Gebäude befinden, auszumachen. Die Eingangstüre ist verschlossen, doch Nicole zieht das Mädchen mit sich auf die Rückseite des Gebäudes und wird fündig. Ein Fenster, noch dazu im Erdgeschoß ist gekippt, ein Leichtes für Nicole dieses zu öffnen. Und wieder fühlt es sich so an, als ob sie dies nicht zum ersten Mal macht. Ohne darüber nachdenken zu müssen weiß Nicole instinktiv, wie das Fenster zu öffnen ist und nur eine Sekunde später stehen die Zwei im Haus.
Da Beide bei Nacht ebenso gut sehen, wie bei Tag ist es ein Leichtes für sie, geräuschlos durch das Haus zu schleichen. Schnell sind die Schlafräume ausgemacht und ein kurzer Blick in beide Räume zeigt ihnen, dass sie es mit vier Gegner zu tun haben. Wie vorher besprochen schaltet Nicole zwei Soldaten mit dem Shaolin-Griff aus, der die Männer über Stunden in das Reich der Träume schickt. Da sie schlafen bemerken sie nicht einmal etwas davon. Als sich Nicole jedoch dem dritten Mann zuwenden möchte, sieht sie zu ihrem Entsetzen, dass dieser, warum auch immer, denn die beiden Frauen haben kein einziges Geräusch verursacht, aufgewacht ist.
Nicole