Als etwa ein Jahr verflossen war, brachte die Königin einen Sohn zur Welt. Darauf in der Nacht, wo sie allein in ihrem Bett lag, erschien ihr die Jungfrau Maria und sprach: „Willst du die Wahrheit sagen und gestehen, dass du die verbotene Tür aufgeschlossen hast, so will ich deinen Mund öffnen und dir die Sprache wiedergeben; verharrst du aber in der Sünde und leugnest hartnäckig, so nehme ich dein neugebornes Kind mit mir.“ Da war der Königin verliehen zu antworten, sie blieb aber verstockt und sprach: „Nein, ich habe die verbotene Tür nicht aufgemacht“, und die Jungfrau Maria nahm das neugeborene Kind ihr aus den Armen und verschwand damit. Am anderen Morgen, als das Kind nicht zu finden war, ging ein Gemurmel unter den Leuten, die Königin wäre eine Menschenfresserin und hätte ihr eigenes Kind umgebracht. Sie hörte alles und konnte nichts dagegen sagen, der König aber wollte es nicht glauben, weil er sie so lieb hatte.
Nach einem Jahr gebar die Königin wieder einen Sohn. In der Nacht trat auch wieder die Jungfrau Maria zu ihr herein und sprach: „Willst du gestehen, dass du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir dein Kind wiedergeben und deine Zunge lösen; verharrst du aber in der Sünde und leugnest, so nehme ich auch dieses neugeborene mit mir.“ Da sprach die Königin wiederum: „Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet,“ und die Jungfrau nahm ihr das Kind aus den Armen weg und mit sich in den Himmel. Am Morgen, als das Kind abermals verschwunden war, sagten die Leute ganz laut, die Königin hätte es verschlungen, und des Königs Räte verlangten, dass sie sollte gerichtet werden. Der König aber hatte sie so lieb, dass er es nicht glauben wollte, und befahl den Räten, bei Leibs- und Lebensstrafe nichts mehr darüber zu sprechen.
Im nächsten Jahr gebar die Königin ein schönes Töchterlein, da erschien ihr zum dritten Mal nachts die Jungfrau Maria und sprach: „Folge mir.“ Sie nahm sie bei der Hand und führte sie in den Himmel, und zeigte ihr da ihre beiden ältesten Kinder, die lachten sie an und spielten mit der Weltkugel. Als sich die Königin darüber freute, sprach die Jungfrau Maria: „Ist dein Herz noch nicht erweicht? wenn du eingestehst, dass du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir deine beiden Söhnlein zurückgeben.“ Aber die Königin antwortete zum dritten Mal: „Nein, ich habe die verbotene Tür nicht geöffnet.“ Da ließ sie die Jungfrau wieder zur Erde hinabsinken und nahm ihr auch das dritte Kind.
Am anderen Morgen, als es ruchbar ward, riefen alle Leute laut: „Die Königin ist eine Menschenfresserin, sie muss verurteilt werden“, und der König konnte seine Räte nicht mehr zurückweisen. Es ward ein Gericht über sie gehalten, und weil sie nicht antworten und sich nicht verteidigen konnte, ward sie verurteilt, auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Das Holz wurde zusammengetragen, und als sie an einen Pfahl festgebunden war und das Feuer ringsumher zu brennen anfing, da schmolz das harte Eis des Stolzes und ihr Herz ward von Reue bewegt, und sie dachte: „Könnt ich nur noch vor meinem Tod gestehen, dass ich die Tür geöffnet habe,“ da kam ihr die Stimme, dass sie laut ausrief: „Ja, Maria, ich habe es getan!“ Und alsbald fing der Himmel an zu regnen und löschte die Feuerflammen, und über ihr brach ein Licht hervor, und die Jungfrau Maria kam herab und hatte die beiden Söhnlein zu ihren Seiten und das neugeborene Töchterlein auf dem Arm. Sie sprach freundlich zu ihr: „Wer seine Sünde bereut und eingesteht, dem ist sie vergeben,“ und reichte ihr die drei Kinder, löste ihr die Zunge und gab ihr Glück für das ganze Leben.
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Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen
Ein Vater hatte zwei Söhne, davon war der älteste klug und gescheit, und wusste sich in alles wohl zu schicken, der jüngste aber war dumm, konnte nichts begreifen und lernen: und wenn ihn die Leute sahen, sprachen sie: „Mit dem wird der Vater noch seine Last haben!“ Wenn nun etwas zu tun war, so musste es der älteste allezeit ausrichten; hieß ihn aber der Vater noch spät oder gar in der Nacht etwas holen, und der Weg ging dabei über den Kirchhof oder sonst einen schaurigen Ort, so antwortete er wohl: „Ach nein, Vater, ich gehe nicht dahin, es gruselt mir!“ denn er fürchtete sich. Oder, wenn abends beim Feuer Geschichten erzählt wurden, wobei einem die Haut schaudert, so sprachen die Zuhörer manchmal: „Ach, es gruselt mir!“ Der jüngste saß in einer Ecke und hörte das mit an, und konnte nicht begreifen was es heißen sollte. „Immer sagen sie es gruselt mir! es gruselt mir! mir gruselt's nicht; das wird wohl eine Kunst sein, von der ich auch nichts verstehe.“
Nun geschah es, dass der Vater einmal zu ihm sprach: „Hör du, in der Ecke dort, du wirst groß und stark, du musst auch etwas lernen, womit du dein Brot verdienst. Siehst du, wie dein Bruder sich Mühe gibt, aber an dir ist Hopfen und Malz verloren.“ „Ei, Vater,“ antwortete er, „ich will gerne was lernen; ja, wenn's anginge, so möchte ich lernen, dass mir's gruselte: davon verstehe ich noch gar nichts.“ Der älteste lachte, als er das hörte, und dachte bei sich: „Du lieber Gott, was ist mein Bruder ein Dummbart, aus dem wird sein Lebtag nichts; was ein Häkchen werden will, muss sich beizeiten krümmen.“ Der Vater seufzte und antwortete ihm: „Das Gruseln, das sollst du schon lernen, aber dein Brot wirst du damit nicht verdienen.“
Bald danach kam der Küster zum Besuch ins Haus, da klagte ihm der Vater seine Not und erzählte, wie sein jüngster Sohn in allen Dingen so schlecht beschlagen wäre, er wüsste nichts und lernte nichts. „Denkt Euch, als ich ihn fragte, womit er sein Brot verdienen wollte, hat er gar verlangt, das Gruseln zu lernen.“ „Wenn's weiter nichts ist,“ antwortete der Küster, „das kann er bei mir lernen; tut ihn nur zu mir, ich werde ihn schon abhobeln.“ Der Vater war zufrieden, weil er dachte: „der Junge wird doch ein wenig zugestutzt.“ Der Küster nahm ihn also ins Haus, und er musste die Glocke läuten. Nach ein paar Tagen weckte er ihn um Mitternacht, hieß ihn aufstehen, in den Kirchturm steigen und läuten. „Du sollst schon lernen, was Gruseln ist,“ dachte er, ging heimlich voraus, und als der Junge oben war und sich umdrehte und das Glockenseil fassen wollte, so sah er auf der Treppe, dem Schallloch gegenüber, eine weiße Gestalt stehen. „Wer da?“ rief er, aber die Gestalt gab keine Antwort, regte und bewegte sich nicht. „Gib Antwort,“ rief der Junge, „oder mache, dass du fort kommst, du hast hier in der Nacht nichts zu schaffen.“ Der Küster aber blieb unbeweglich stehen, damit der Junge glauben sollte es wäre ein Gespenst. Der Junge rief zum zweiten Mal: „Was willst du hier? Sprich, wenn du ein ehrlicher Kerl bist oder ich werfe dich die Treppe hinab.“ Der Küster dachte: „Das wird so schlimm nicht gemeint sein,“ gab keinen Laut von sich und stand, als wenn er von Stein wäre. Da rief ihn der Junge zum dritten Mal an, und als das auch vergeblich war, nahm er einen Anlauf und stieß das Gespenst die Treppe hinab, dass es zehn Stufen hinabfiel und in einer Ecke liegen blieb. Darauf läutete er die Glocke, ging heim, legte sich, ohne ein Wort zu sagen, ins Bett und schlief fort. Die Küsterfrau wartete lange Zeit auf ihren Mann, aber er wollte nicht wiederkommen. Da ward ihr endlich angst, sie weckte den Jungen, und fragte: „Weißt du nicht, wo mein Mann geblieben ist? Er ist vor dir auf den Turm gestiegen.“ „Nein,“ antwortete der Junge, „aber da hat einer dem Schallloch gegenüber auf der Treppe gestanden, und weil er keine Antwort geben und auch nicht weggehen wollte, so habe ich ihn für einen Spitzbuben gehalten und hinuntergestoßen. Geht nur hin, so werdet Ihr sehen, ob er's gewesen ist, es sollte mir leid tun.“ Die Frau sprang fort und fand ihren Mann, der in einer Ecke lag und jammerte, und ein Bein gebrochen hatte.
Sie trug ihn herab und eilte dann mit lautem Geschrei zu dem Vater des Jungen. „Euer Junge,“ rief sie, „hat ein großes Unglück angerichtet, meinen Mann hat er die Treppe hinabgeworfen, dass er ein Bein gebrochen hat: schafft den Taugenichts aus unserem Haus.“ Der Vater erschrak, kam herbeigelaufen und schalt den Jungen aus. „Was sind das für gottlose Streiche, die muss dir der Böse eingegeben haben.“ „Vater“, antwortete er, „hört nur an, ich bin ganz unschuldig: er stand da in der Nacht, wie einer, der Böses im Sinn hat. Ich wusste nicht wer's war, und habe ihn dreimal ermahnt zu reden oder wegzugehen.“ „Ach,“ sprach der Vater, „mit dir erleb' ich nur Unglück,