Schuld und Bühne. Jochen Duderstadt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Duderstadt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844227529
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zur Fürsorge schicken? Nennt man das heute nicht Sozialagentur?"

      Sie guckt mich mitleidig an und sagt:

      "Na hör mal, das kann man auch als Museumsaufsicht wissen. Bist du denn völlig aus der Welt? Eltern müssen auf ihre Kinder aufpassen und sie versorgen, und dazu gehört auch, dass sie sie nicht in Panik versetzen oder verkommen lassen, und wenn sie es trotzdem tun, kriegen sie einen Einlauf, steht irgendwo im Strafgesetzbuch."

      Und ich sag noch: "Geht mich doch nichts an, sind ihre Kinder", und da wird sie richtig grundsätzlich und sagt: "Glaub mir, ich hab´s bei der Polizei ständig mit Gewaltschutzgeschichten zu tun, also mit häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen, und der Mist, auf dem so was wächst, ist genau diese Einstellung Geht mich doch nix an bei den Nachbarn. Und wenn du diese verkommene Kackbratze jetzt nicht anzeigst, dann mach ich das, und du bist blamiert, wenn meine Kollegen dich dann fragen, warum du dir das so lange angehört hast."

      Dass ich da eine Weile rumgeeiert bin, hab ich der Anwältin dann auch erzählt, und dann auch, dass ich tatsächlich am nächsten Tag zur Polizei bin und dass das Theater dann erst richtig los ging. Mit Protokoll, Vorladung der Nachbarin, Befragung der Kinder. Die Nachbarin trifft mich beim Wäscheaufhängen und kreischt mich an, ich wär ein Scheißdenunziant und ein Polizeispitzel und sonst was, und außerdem wär ich bloß eifersüchtig, weil ich als schwule Sau nicht so einen, ich sags mal in ihren Worten, krassen Ficker hätte. Ich ging nervlich schon am Stock, und dann kam auch noch der Anruf ihres Ex mit wüsten Vorwürfen, so nach dem Motto, das hätt ich mir alles ausgedacht, Produkt meiner kranken Phantasie, ich wär ja bloß frustriert, und das könnte alles gar nicht sein, denn während seiner zehnjährigen Ehe mit seiner Ex hätte sie, das könne er schwören, nie derartige Töne von sich gegeben, und das habe er auch der Polizei so geschrieben.

      So fremd mir das alles ist, Liliane: Die Bullen und Bulletten werden sich doch schlapp gelacht haben, als sie das lesen durften.

      Dann kam was Interessantes, was ich in dieser Affäre natürlich zum ersten Mal erfahren habe, aber meine Verteidigerin hat mir bestätigt, das das immer so geht. Jedes Ermittlungsverfahren, so nennen die das glaub ich, ich seh ja keine Krimis, hat eine spezielle Dynamik. Mittendrin ist ein Scheitelpunkt erreicht. Davon merkt man als Betroffener erst mal gar nichts. Und von da an gibt es drei Wege. Entweder der Anfangsverdacht hat sich so richtig verdichtet, dann ist der Beschuldigte dran, es kommt eine fette Anklageschrift und er wird vor Gericht gezerrt. Der zweite Weg ist: Die ahnen, dass das alles nicht reicht für eine Verurteilung und stellen den Scheiß ein. Und der dritte, von dem ich nun überhaupt nichts geahnt hab, denn sonst hätt das mal schön bleiben lassen trotz der Dröhnerei von meiner sauberen Bekannten, der geht so: Die Karre, die sie da sozusagen den Berg hochgewuchtet haben, wird losgelassen und rumpelt vollrohr auf den zu, der die ganze Sache mit seiner Anzeige angeschoben hat. Da staunst du, was?

      Genau so war das nämlich jetzt bei mir. Das Verfahren gegen die Brüllerin wurde eingestellt, weil sie ihrem Rammler und dem Ex geglaubt haben, und plötzlich hatten sie mich am Wickel wegen falscher Verdächtigung. Das muss man sich mal vorstellen.

      Genau das mit der verkehrten Welt hab ich in dem ersten Gespräch mit der Anwältin gesagt, und ich hab auch gesagt:

      "Ich hab Ihnen angemerkt, dass sie mir das nicht glauben wollten mit der Anklageschrift gegen mich, aber hier ist sie."

      Und ich reich sie ihr rüber.

      Sie liest und murmelt den Text, und der war wirklich unglaublich. Ich hab ihn hier, weil du mir das sonst auch nicht glaubst. Hier, ich les mal vor:

       Der Museumswächter Stefan Kähler, geb. am 31.8.1971, Deutscher, nicht bestraft, wird angeklagt, einen anderen wider besseres Wissen bei einer Behörde einer rechtswidrigen Tat in der Absicht verdächtigt zu haben, ein behördliches Verfahren herbeizuführen,

      

       indem er

       bei der Polizeistation Rallstaett Strafanzeige gegen die Zeugin Melanie Raabe wegen fortlaufender Verletzung der Fürsorgepflicht mit der Begründung erstattete, sie habe etwa seit Mitte des Jahres 2012 allabendlich bei der Ausübung des Geschlechtsverkehrs unzumutbar hohe akustische Emissionen ins Werk gesetzt, die sich am Empfängerhorizont der minderjährigen Kinder der Zeugin Raabe als Schmerzensschreie dargestellt hätten, mit der Folge, dass die Kinder ihrerseits Schreie des Entsetzens ausgestoßen und sich sodann in den Schlaf geweint hätten.

      

       Vergehen nach § 164 StGB.

      Wenn du bisher nicht gewusst hast, was Juristendeutsch ist, dann weißt du´s jetzt.

      Sogar die Anwältin musste sich ein Lächeln verkneifen, bevor sie die Anklageschrift einer Sekretärin zum Kopieren gab, ich sah das deutlich, und dann sagt sie so bemüht damenhaft:

      "Man hätte es poetischer formulieren können, aber nicht präziser. Und den Juristen kommt es auf Genauigkeit an."

      Und fügt hinzu: "Ich mach zwar nicht so oft Strafrecht, aber hier vertrete ich Sie gern."

      Wir haben dann noch über die Kosten gesprochen, also dass meine Scheißrechtsschutzversicherung nicht einspringen würde, weil da im Kleingedruckten steht, dass es für absichtliche Straftaten keinen Rechtsschutz gibt, hast du das gewusst? Ja, und dass Pflichtverteidigung auch nicht drin wär. Das kriegste nur, wenn mehr als ein Jahr Knast droht. Verstehst du das? Man muss was richtig Schlimmes ausgefressen haben, dann zahlt der Staat deine Verteidigung. Wenns unter diesem Level ist, kannst du dich selbst verteidigen oder deinen Anwalt selbst bezahlen. Na gut, da musste ich halt 400 € abdrücken, als Vorschuss, sonst hätte sie sich gar nicht erst die Gerichtsakte bestellt.

      Nicht zu ändern. Ich hab ihr noch gesagt:

      "Im Museum haben wir manchmal Schulklassen, die rennen da durch die Säle, die Mädels kichern, die Jungs grölen, alle haben sie MP3- Stöpsel in den Ohren, die meisten sind am simsen, und wenn ich nicht aufpasse, schnipsen sie Popel an die Exponate. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was los wär, wenn so eine Horde das Gericht besucht, wenn ich gerade dran bin. Die würden sich gar nicht mehr einkriegen."

      Sie hat mich dann beruhigt, wollte mit dem Richter sprechen.

      Dann kam die Hauptverhandlung. Meine Anwältin hatte mich gut vorbereitet, aber es war natürlich ungewohnt. Ich war ja vorher noch nie bei Gericht, und es ist auch ganz anders als im Fernsehen. Das wusst ich schon. Wir kamen also rein, zum Glück war da keine Schulklasse, nur ein paar alte Säcke, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten. Sie unterhielten sich aufgeregt, als sie mich sahen. Einen hab ich an der Stimme wiedererkannt, das war der Ex, der mich am Telefon beschimpft hatte.

      Ich guck nach vorn, um mit einem Blick in den Saal zu erfassen, was los ist, Das bin ich ja vom Arbeitsplatz gewohnt. Vorn sitzt der Richter, ein Typ, na ja, jünger als ich. Ich war ganz überrascht. Im Fernsehen sind das immer so Graumelierte. Oder haben gleich eine graue Perücke auf. Jedenfalls war er mir gleich sympathisch, weiß auch nicht warum. Gegenüber ein junges Mädchen, so knapp 30, bisschen mager, das seh ich trotz ihrer Robe, also deutlich näher an Giacometti als an Tizian, wenn du verstehst, was ich meine. Ganz sicher war ich mir nicht, denn die haben bei Gericht einen üblen Trick: Die Anklagebank ist immer vor dem Fenster, und wenn der Angeklagte guckt, wer ihn da fertigmachen will, ist meistens Gegenlicht und er kann kaum was erkennen. Das ist beabsichtigt. Der arme Kerl soll gleich ein bisschen verunsichert werden, und außerdem soll die Staatsmacht anonym rüberkommen, so nach dem Motto: Ist egal, wer hier sitzt, das Gewaltmonopol kriegt dich.

      Na ja, und dann sitzt da am Ende des Richtertischs noch so eine bucklige Protokollführerin und sagt zum Glück keinen Ton.

      Unten, wie gesagt, die Rentnerband und, hätt ich fast vergessen, die Zeugen, also meine Nachbarin, die macht so eine Geste, also täts ihr leid, aber das war ein bisschen spät. Neben ihr ihre 13-jährige Tochter, grüne Haare und total zugepierct. Und dann meine Ex-Bekannte, die an mir vorbei guckt.