Da ihr fünfhundertjähriger Erfahrungshorizont mit derartigen haarsträubenden Episoden inzwischen regelrecht gespickt war, wusste sie um den Preis, den man zahlte, wenn man leidenschaftlich gerne abseits ausgetretener Pfade wandelte. Lange haderte sie mit ihrem Schicksal und verfluchte den Umstand, dass sie als Baumgeborene dazu verurteilt war, das Zen des Innehaltens und der Langsamkeit von der Pike auf erlernen und perfektionieren zu müssen. Ihr war es zuwider, die Rolle einer Eiche erfüllen zu müssen, die traditionell die eines Vorbildes in Sachen Entschleunigung zu sein hat.
Auch wenn sie sich im Laufe der Zeit mit ihrer Bestimmung halbwegs abgefunden hatte, blieb einem unternehmungslustigen Charakter wie ihr doch schon aus Gründen der psychischen Hygiene gar nichts anderes übrig, als sich in der geistigen Sphäre nach Herzenslust auszutoben, oder?
Jedes Kind weiß, sinnierte die Eiche, dass sich eine Vision auf die Zukunft bezieht, es sich um eine Art Vorahnung handelt. Was jedoch kaum jemandem bekannt sein dürfte, ist die Tatsache, dass einige wenige Auserwählte imstande sind, sich innerhalb ihrer Vision frei zu bewegen und die Räume, in denen die Zukunftsmusik spielt, nach eigenem Ermessen zu erkunden.
Die Träumerin Eiche besitzt diese außerordentliche Fähigkeit und ist sich, trotz ihrer gelegentlichen Anfälle spätpubertären Leichtsinns, der Exklusivität dieser Gabe bewusst und schätzt sich überglücklich, vom Schicksal so reich beschenkt worden zu sein. Und da sie blindlings darauf vertraut, dass insbesondere ihr von einer unverbesserlich kindlichen Natur geprägtes Wesen ihr bester Schutz ist, beschließt sie, von dieser unmöglichen Möglichkeit Gebrauch zu machen und abermals viel zu weit zu gehen.
Sie konnte einfach nicht anders handeln. Das geheimnisvolle Portal zog sie magisch an. Auch wenn die Tür äußerst geschickt mit einem alles überstrahlenden Licht getarnt war, ließ sie sich nicht irreführen. Sie wusste, dass der helle Schein den Zweck hatte, ungebetene Besucher zu blenden und so dafür zu sorgen, dass nur diejenigen es als Durchgang zu einem anderen Ort erkannten, die sich auch tatsächlich anschickten, ihn zu betreten.
Regungslos verharrte die Eiche auf ihrem Beobachtungsposten und fragte sich, welche besondere Sphäre sich wohl jenseits dieser geheimnisvollen Pforte befinden mochte. Ihre diesbezüglichen Informationen beschränkten sich auf fantastische Legenden über ein völlig unfassbares Märchenland, das auf der anderen Seite dieser intergalaktischen Lichtschranke angeblich Ziel jener letzten Reise war, die jedes Lebewesen am Ende seiner irdischen Existenz antrat. Mit Sicherheit wusste sie nur, dass dieser sagenumwobene Ort ausschließlich denen vorbehalten war, die das Zeitliche gesegnet hatte. Eine VIP-Lounge der besonderen Art, auf deren Eingang ein großes Schild prangte:
Hier kein Durchgang für Lebendige!
Eigentlich eine unmissverständliche Botschaft, doch Verbote besaßen schon immer eine fatal verführerische Wirkung auf die Eiche. Anstatt sie abzuschrecken, animierten diese sie dazu, genau das zu tun, was sie unter Strafe stellten.
Und so schlich sie sich wider besseren Wissens immer näher an die Lichtquelle heran, bemüht, maximal unauffällig zu wirken, sich nach Möglichkeit unsichtbar zu machen. Während die Träumerin zwischen den Menschen nach Deckung suchend, geduckt über das Blütenmeer schwebte, konnte sie sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Allzu lachhaft erschien ihr der Versuch, unerkannt zu bleiben. Als ob der Urheber dieses überirdisch anmutenden Lichts Ohren und Augen bräuchte, um sie zu bemerken. Welche Wesenheit sich auch immer hinter diesem Phänomen verbergen mochte, sie war mit Sicherheit der Beschränktheit der gängigen fünf Sinne entwachsen und hat umfassendere, wesentlich subtilere Formen der Wahrnehmung entwickelt.
Die lupenreine Qualität des Lichts, seine makellos weiße Klarheit, ließ im Grunde genommen nur einen einzigen Schluss zu. Und zwar den, dass sie göttlichen Ursprungs war. Welche andere Instanz könnte in der Lage sein, eine derart machtvolle, alles überstrahlende und trotzdem wohltuende, auf eine heilsame Art befriedend wirkende Energiequelle zu installieren? Eine Sonne, deren Strahlen die Eiche beim Näherkommen nicht verbrannten, wie sie anfangs befürchtet hatte, sondern zärtlich umschmeichelten wie ein lauer, abendlicher Sommerwind.
Die fürsorgliche Berührung einer großen, warmen Hand aus Licht auf ihrem Geistkörper zu spüren, war zunächst eine, der Träumerin vollkommen fremde Empfindung. Je weiter sie sich in den gleißenden Gaskörper der Sonne vor wagte, desto intensiver wurde das Gefühl getragen zu werden, bis es sie schließlich einhüllte wie eine liebevolle Umarmung. Unversehens fand sie sich in einer Sphäre absoluter Stille wieder, die mit einer kompromisslosen Nähe verbunden war, wie sie sonst nur die innige Verbundenheit eines Lebewesens gegenüber dem leiblichen Kind hervorbringen kann.
Wie lange dieser Zustand anhielt, konnte die Eiche später nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Eingesponnen in einen schützenden Kokon aus reinstem Glück, verlor sie jedes Zeitgefühl. Was sie jedoch deutlich registrierte, war das befreiende Gefühl, als eine pralle Eiterblase giftiger Negativität in ihrem Innern aufbrach und wie ein schwarzes, zähflüssiges Rinnsal aus ihr heraus sickerte, die Welt ihrer Gedanken und Gefühle verließ.
Denn auch als Baum ging das Leben nicht spurlos an einem vorüber, auch sie hatte sich im Laufe der Zeit mit dem Virus tiefsitzenden Misstrauens gegenüber Allem und Jedem infiziert. So empfand sie es als Segen, dass sie das weiße Licht von einem ganzen Berg irrationaler Ängste erlöste und jede Menge erstickende Zweifel auslöschte.
Irgendwann erschien ein spiralförmiges Lichtwesen an der Seite der Träumerin, nahm sie behutsam an ihre dunkelgrün bemooste Hand und führte sie in das Zentrum des Heiligtums. In seiner Mitte glomm in einem zarten, transparent wirkenden Orangeton ein fluoreszierender Lichtkranz, der in stetem, ruhigen Rhythmus pulsierende Kern der Sonne. Auf die Eiche wirkte er wie eine Insel der Verheißung. Um diesen Ort stiller Glückseligkeit einigermaßen treffend zu beschreiben, müsste man eine neue Sprache erfinden. Grob ausgedrückt, bestand er aus Nichts und enthielt dennoch Alles.
Der Magnet aus Licht trieb den Frohsinn der Träumerin in schwindelerregende Höhen, bis sie es kaum noch ertragen konnte und befürchtete, gleich vor Entzücken zu verbrennen. Magisch angezogen, taumelte sie auf den immer gleißender erstrahlenden Schein zu, realisierte bestürzt, dass sie sich im freien Fall befand und und verlor den Verstand. Und während ihr Geistkörper haltlos wie Weltraumschrott um seine eigene Achse trudelte, drehte sie sich auch gedanklich um sich selbst und um das, was hinter ihr lag. Vage, aus großer Ferne, nahm sie wahr, dass ihre Erfahrungswerte abgefragt wurden, und dann funkelte die Gesamtzahl der einschneidenden Erlebnisse ihres vergangenen Lebens, wie eine Kette aus Blitzlichtern, vor ihrem inneren Auge vorbei.
Als sie ihr Bewusstsein zurück erlangte, fand sie sich in dem Zustand eines frisch geborenen Säuglings wieder. Frei von jedwedem Zweifel und mit sperrangelweit geöffneten Sinnen lauschte sie ihrer ganz persönlichen Offenbarung. Während sie, ohne zu urteilen, ihre Qualitäten und ihre Schattenseiten betrachtete und abwägte, erkannte sie ihr eigenes Potential, aber auch ihre trickreichen Mechanismen der Verhinderung und Selbstsabotage. So selbstverständlich wie ein guter, lang vertrauter Freund, zeigte ihr die lichte Instanz die Vielzahl der inneren Widerstände auf, die sie sich alltäglich zwischen die Wurzeln warf.
Keine komplizierten Erklärungen, weder Worte, noch Bilder, als ob der gute Rat aus ihr selbst gekommen wäre. Ein Lehrer, so unaufdringlich und klar in seiner Botschaft wie ein Herz, dessen gelassene Impulse das Blut im Körper verteilten. Das Licht war ein geflüstertes Versprechen. Es verhieß Erlösung und ließ sie an der universellen Erkenntnis teilhaben, dass die Realisierung ihrer sehnlichsten Wünsche nur eine Frage ihrer richtigen Einstellung war.
3 / Bei Nacht und Nebel
Die eingeschworene Gemeinschaft