Ich befand mich in einer befremdlich wirkenden Parallelwelt, an der mich vor allem der lethargische Zustand der Menschen in Erstaunen versetzte. Trotz ihrer offensichtlichen Verzweiflung schien keiner von ihnen den Versuch unternehmen zu wollen, dieses trostlose Land zu verlassen. Nicht an Wasser oder Nahrung schien es ihnen zu mangeln, sondern vor allem an dem Mut, eine Entscheidung zu treffen und sich auf den Weg zu machen, egal in welche Richtung.
So verharrten sie nahezu unbewegt auf der Stelle und mir schien, dass sie dort bereits für eine sehr lange Zeit gestanden hatten. Schwankende Salzsäulen, die lebendigen Toten glichen. Jeder wirkte absolut isoliert und abgeschnitten, als ob er ganz und gar losgelöst von den anderen, nur für sich allein existierte. Frauen, Männer und Kinder, obwohl sie dicht aneinander gedrängt standen, wirkten sie, als entbehrte ihre Gemeinschaft jeglichem Gefühl der Verbundenheit. Ich konnte ihren Mienen deutlich ablesen, dass sie jede Hoffnung auf eine Veränderung ihrer Situation längst aufgeben hatten. Mich überkam der Eindruck, als sei an diesem traurigen Ort die Zeit stehengeblieben und die Menschen in einer Art Niemandsland zwischen den Welten gefangen.
Als ich mich bereits zu fragen begann, wie ich diese erbarmungswürdigen Wesen dabei unterstützen könnte, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, erhob sich am Rand der Wüste ein leiser, schwebender, aber deutlich vernehmbarer Ton. Zunächst klang er unscharf, wie ein aus weiter Ferne vernommenes Gesumme eines Bienenvolkes, das seine Nisthöhle emsig umschwärmte. Dann schien die Quelle des undefinierbares Geräusches sich langsam zu nähern. Es gewann zunehmend an Kraft und entpuppte sich schließlich als eine filigrane, äußerst vielschichtige Melodie.
Erst jetzt erkannte ich den Ursprung der eigentümlichen Musik. Es war die Gemeinschaft der Tiere, sie hatten ihre Rückzugsräume in den letzten dicht bewaldeten Winkeln der Erde verlassen und sich zu einem gigantischen, alle Gattungsgrenzen sprengenden Chor zusammengefunden.
Während die Magie des Gesangs zarte Klangbilder erzeugte und die Menschen in einen tröstlichen Hoffnungsschimmer hüllte, ging hinter dem Horizont die Sonne auf und tauchte die Einöde in ein herzerwärmendes Licht. Ich traute meinen Augen kaum, aber mit dem güldenen Schein musste wohl ein machtvoller Zauber verbunden sein, denn nun geriet die, von gezackten Rissen anhaltender Dürre durchzogene, Sandfläche in Bewegung.
Und urplötzlich begann die Wüste zu blühen, als hätte sie ein üppiger Sturzregen aus ihrem Todesschlaf erweckt. Langstielige Gräser, üppige Farne und zierliche Büsche, eine Vielzahl exotisch anmutender Pflanzen erhob sich aus der grauen Asche. Ein Meer von prachtvollen Blumen streckte seine Blütenhäupter dem gleißenden Schein entgegen und brachte Farben und Frohsinn in die Parallelwelt.
Mit dem Wiedererwachen der Natur schien auch der Lebensfunke in die Menschen zurückzukehren. Wie auf ein unhörbares Kommando hin, formierten sie sich zu einer endlos langen Karawane und begannen, dem gleißenden Licht am Horizont entgegen zu gehen. Frauen, Männer und Kinder, dicht hintereinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, trotz ihrer Erschöpfung wirkten ihre Bewegungsabläufe harmonisch aufeinander abgestimmt, als ob ein gemeinsamer Geist ihren Willen vereinte und ihre Schritte durch das wogende, kniehohe Gras lenkte.
Die bunt zusammengewürfelte Armee von Heimatlosen marschierte einem unbekannten Ziel entgegen. Durchscheinend und blass, nahezu konturlos waren ihre Körper, wie die von Gespenstern.
Vielstimmig, mit berauschender, sich steigernder Intensität sang der Chor der Tiere für die geisterhafte Völkerwanderung. Die Lautmalerei überwand die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits spielend und ließ beide Welten für die Dauer eines Liebesliedes zu einer einzigen verschmelzen. Bildhaft und kraftvoll drang die Musik bis an die äußersten Grenzen dieses Ortes und segnete ihn mit einem hoffnungsvollen Zauber.
Die Tiere brauchten keine Worte, um den Reisenden Mut zu zusprechen. Jede einzelne ihrer Stimmen war erfüllt vom Keim ihres niemals gänzlich erloschenen Glaubens an das Gute, an den unsterblichen, heilen Kern in jedem Lebewesen. Auf den letzten Metern ihrer letzten irdischen Reise verlieh ihr Gesang den Menschen Flügel.
Als hätten sie eine unsichtbare Schwelle übertreten, begann der helle Schein plötzlich unmerklich, fast zärtlich an den Menschen zu ziehen, sie vorwärts, in seine Richtung zu locken. Je näher sie der Lichtquelle kamen, desto leichter wurden ihnen wohl die Füße, denn irgendwann schienen sie schwerelos wie Federn dahin zu schweben, offenbar beseelt von einem starken Gefühl der Sehnsucht, dessen Ursprung ihnen allerdings noch unbekannt zu sein schien.
Schritt für Schritt richteten sie sich auf, als ob ihnen eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen wurde. Ihre Körper streckten sich dem Himmel entgegen, bis sie schließlich aufrecht und würdevoll dahinglitten. Ohne zu zögern gaben sie sich dem Sog hin, flogen an unsichtbaren Fäden hängend und wie von Geisterhand gezogen direkt in das alles überstrahlende Licht hinein, wurden von ihm eingeatmet und verdunsteten in seinem Strahlenkranz wie Regentropfen in der Sonne. Still und friedlich verließen sie diese Welt.“
Es wird Zeit, eine kleine kontemplative Pause einzulegen, denkt die Eiche bei sich, und holt so tief Luft, dass ihre abertausend Blätter erneut begeistert anfangen, zu rascheln.
Dieses zähe Suchen nach passenden Erklärungen und allgemein verständlichen Redewendungen empfindet sie zunehmend als recht enervierend. Viel lieber möchte sie auf rein mentaler Ebene kommunizieren, aber Telepathie ist für den Großteil ihrer Zuhörerschaft leider ein absolutes Fremdwort.
Manchmal spielt sie mit dem Gedanken, das doppelbödige Hochamt der Zeitreisenden einfach hinzuschmeißen und ihr eigenes Ding zu machen. Ihre persönliche Entwicklung demonstrativ abzukoppeln von der schwerwiegenden Verantwortung für die geistige Gesundheit der Community und in Eigenregie auf eine unbefristete Weltreise zu gehen.
Auch wenn es ihrer Waldfamilie nicht bewusst ist, mit den Jahren hat sie ihr gegenüber eine ausgesprochen stressige Erwartungshaltung entwickelt. Man verlangt förmlich von ihr, der Träumerin Eiche, dass sie regelmäßig Götterfunken wie Bonbons unter das Volk wirft.
Wie viel umfassender könnte sich ihre eigene spirituelle Bandbreite schon entwickelt haben, zu was für himmlischen, geistigen Höhenflügen wäre sie inzwischen imstande, ohne dieses Blei gesellschaftlicher Verpflichtungen an den Wurzeln, das sie so machtvoll zwingt, in irdischen Gefilden zu verharren. Dieser gewaltige Anker namens Alltag, wie entsetzlich schwer ist es doch, ihn längerfristig zu lichten?
In einsamen Momenten wie diesen träumt sie davon, grenzenlos durch die höchsten Himmelssphären zu wandeln und nach dem Ursprung allen Seins zu forschen. Manchmal nennt sie es Gott, öfter Göttin, das hängt von ihrer Laune ab und spielt ihrer Ansicht nach auch eigentlich keine allzu große Rolle. Denn was für einen Sinn macht eine geschlechtsspezifische Ausrichtung in einem Kontext, in dem Fortpflanzung keine Rolle spielt?
Frei von irdischen Anbindungen aller Art, käme sie so gut wie gar nicht mehr zurück auf die Erde. Allerhöchstens sporadisch und aus dem lästigen Gefühl der Verpflichtung heraus, würde sie hin und wieder nach dem Rechten sehen und nachprüfen, ob gerade Sommer oder Winter ist, ob ihr Stamm die notwendige Menge an Nährstoffen gespeichert hat und ihre Äste ausreichend Wasser und Licht zur Verfügung haben, um genügend Blätter sprießen zu lassen. Diese Maßnahmen der Selbstfürsorge lassen sich nun einmal nicht vermeiden. Bei ihnen handelt es sich um Sachzwänge, die einem der Alltagstrott aufbürdet und die dem reinen Selbsterhaltungstrieb dienen.
Das ist natürlich nichts weiter als eine wunderschöne Wunschvorstellung. Ihr ist vollkommen klar, dass sie aus der Affäre namens Gemeinschaft nicht mehr so einfach herauskommt, genauer gesagt, dass ihre Rolle als Träumerin Zeit ihres Lebens an ihr kleben wird wie eine zweite Rinde. Trotzdem verzichtete sie nur allzu gerne auf die ganzen ellenlangen Ansprachen und Erläuterungen, denn nach all den Dienstjahren als Träumerin empfindet sie jede Art von Erklärung inzwischen als überaus lästig